Wo sich der zeitweise ziemlich extreme deutsche Föderalismus weiterhin schön spiegelt: in der Medienlandschaft. Wie viele Zeitungen es noch immer gibt (2012 waren es, dieser Studie/ PDF-Download zufolge, 322 Abonnementzeitungen in Deutschland), wie dicht bestückt allein die Landkarte der „Tatort“-Ermittler ist und wie irrsinnig dicht erst eine mit allen Regionalkrimireihen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens wäre – das hängt mit dem alten Föderalismus zusammen.
Und vielleicht auch, dass regelmäßig eine Menge Medienschaffende und Medienbeobachter ins etwas ablegene nordrhein-westfälische Marl reisen. Denn dort sitzt das Grimme-Institut, das den weiterhin renommiertesten unter den keineswegs wenigen Fernsehpreisen vergibt. Die mehrstufige Preisvergabe geht ungewöhnlich akribisch vonstatten, vor den Nominierungen und Preisvergaben werden sehr viele Sendungen vollständig angeschaut und diskutiert. Deshalb reisen relativ viele Medienleute nach Marl (Ich war ein paar Mal dort, zuletzt im Februar, um mit den Kollegen den Bert-Donnepp-Preis fürs Altpapier entgegenzunehmen).
Wenn solche Metropolenbewohner per Bahn anreisen, steigen sie nach längeren Fahrten in eher langsamen S-Bahnen an der Station Marl-Mitte aus. Nachdem sie dort die Treppen hinauf gestiegen sind, müssen sie den „Marler Stern“ durchqueren. Das nach eigenen Angaben (des Verbands der Gewerbetreibenden im Marler Stern e.V.) „mit Europas größtem Luftkissendach überspannte Einkaufscenter“ enthält eine „zweigeschossige Ladenstraße von ca. 180 m Länge und 25 m Breite“, mithin eine imposante Verkaufsfläche von rund 58.000 m² (Wikipedia). Vollständig ausgelastet ist sie freilich nicht. Auf der anderen Seite der Bahnstation kommt man in Marl-Mitte heraus: Das zweitürmige Rathaus steht am (künstlich angelegten) City-See, den großzügige Spaziergeh-Landschaft umgibt, hinter der wiederum gewaltige Wohn-Hochhäuser aufragen, deren Stil sich vielleicht als sozialdemokratischer Realismus bezeichnen ließe. Bei schönem Wetter sieht das durchaus schön aus. Bei grauem Himmel kann der Anblick Medienmenschen aus urbaneren Städten auch negativ erstaunen.
Dieses Erstaunen am Deutlichsten in relativ böse Worte gefasst (z.B. „Beim Wettbewerb um die größte zubetonierte Fläche in der Innenstadt hätte Marl ebenfalls gute Chancen, sich an die europäische Spitze zu setzen“) hatte Michael Hanfeld, immer noch der Medienredakteur der „FAZ“, schon 1998 im Artikel „Last Exit Marl oder Was ist Europäische Medienkompetenz?“. Darin ging es außer um die Stadt auch um das damals neu in Marl angesiedelte „Europäische Zentrum für Medienkompetenz“, das die im Namen beanspruchte Furore niemals machte und inzwischen im Grimmeinstitut aufging.
Das strukturelle Problem Marls besteht darin, dass es erst im 20. Jahrhundert durch das Zusammenwachsen ehemaliger Dörfer mit Siedlungen für Bergwerks- und Chemiearbeiter entstand, 1936 zur Stadt wurde und und in der Nachkriegszeit wegen florierender Firmen sogar reich war. In den 1950er Jahren nahm es das schon in den 1920ern gehegten Vorhaben wieder auf, für die zusammenwachsenden (oder zumindest zusammenwachsen sollenden) Ortsteile eine neue Mitte zu bauen. Herzstück sollte ein neues Rathaus sein, das schon der „Zunahme der Verwaltungsleistungen“ für die gestiegene Einwohnerzahl wegen nötig geworden war.
Wie Marl darum 1957 einen „europäischen Wettbewerb“ ausrichtete, dessen Ergebnis in einer Fachzeitschrift als einer der „erregendsten Vorgänge auf dem Gebiet des Städtebaus unserer Zeit“ und selbst in der FAZ als „kühner, schöner Entwurf“ bezeichnet worden sei, das beschreibt die Rathaus-Seite der städtischen Internetpräsenz marl.de beinahe mitreißend. Am Wettbewerb nahmen unter anderem die Architekten Alvar Aalto und Hans Scharoun teil. Letzterer hat auch die West-Berliner Staatsbibliothek entworfen, das für meinen Geschmack schönste Gebäude Berlins (sofern man drinsitzt!). Gewonnen haben die Niederländer Johannes Hendrik van den Broek und Jacob Berend Bakema. Ihr Entwurf ist der, der auch heute noch am Marler City-See steht, die ersten „Hängehochhäuser“ der BRD:
„Aus den Fundamenten wächst jeweils ein großer Betonkern mit Treppenhäusern und Aufzügen. Auf diesem Kern ruht ein ‚Pilzkopf‘, an dem die Hängeglieder befestigt sind, die wiederum die Geschossdecken halten und den Türmen ihre feingliedrige Fassade geben…“,
beschreibt die offizielle Marler Webseite. Einerseits war Marls Mitte also definitiv einmal Avantgarde. Andererseits wird sie, muss man sagen, relativ oft als hässlich empfunden, z.B. hier in den Kommentaren unter einem Stefan-Niggemeier-Fotobeitrag, z.B. hier in einem Artikel der örtlichen Wochenzeitung „Marl aktuell“.
Dritterseits haben in den letzten Jahren, wie wiederum marl.de informiert, „die Hängeglieder der Rathaustürme…, den wachsenden Witterungs- und Umweltbelastungen auf Dauer nicht stand“ gehalten; schon in der ersten Hälfte der 1980er musste nachgebessert werden. Seit 2007 ist, wiederum „Marl aktuell“ zufolge, in Diskussion, das Rathaus aus arbeitsmedizinischen Gutachten aufzugeben. Es wurde sogar überlegt, ob ein Abriss des Rathauses eine bessere Lösung als eine Restaurierung sein könnte (wobei besser billiger hieß, denn finanziell gut geht es den Städten im Strukturwandels-Ruhrgebiet bekanntlich nicht). Aktueller Stand ist, dass zwar die SPD-Mehrheit unter Marls Ratsherren dagegen stimmte, das Rathaus unter Denkmalschutz zu stellen, was sich weniger gegen das Gebäude als gegen die Umgebung richtete („Wir wollen keine Waschbetonplatten unter Denkmalschutz stellen. Das ist in der Bevölkerung nicht zu vermitteln“), dass sich die „Untere Denkmalschutzbehörde des Landes“ Nordrhein-Westfalen aber davon nicht beeinflussen lassen dürfte (marler-zeitung.de).
„Die Stadt Marl ist völlig verarmt und droht zu überschulden“, steht zurzeit in der Wikipedia unter dem Stichwort „Wirtschaft und Infrastruktur“. Rund um Marl-Mitte zeigt sich, dass Marl schon während der ambitionierten Planungen, ein avantgardistisches Zentrum für die entstehende Stadt zu errichten, aufgrund erster Strukturkrisen das Geld ausging.
Ältere Marler sagen, dass das Zusammenwachsen der Stadt sowieso nicht geklappt habe, dass niemand sich „Marler“ nenne, sondern lieber „Hammer“ oder „Sinsener“ (nach den eingemeindeten Stadtteilen Hamm und Sinsen). Einige Marler nennen sich freilich doch Marler bzw. Alt-Marler. Alt-Marl ist der Stadtteil, nach dem die ganze Stadt benannt wurde. Dort sieht der Ortskern zwar deutlich weniger interessant aus als Marl-Mitte; die eigentlich im 11. Jahrhundert errichtete Kirche war dummerweise im 19. fast komplett neugebaut worden, die sonstige alte Bausubstanz sei nicht im Krieg, aber in der Boomphase der 1950er zugunsten von Mehrfamilienhäusern, die höhere Mieteinnahmen brachten, abgerissen worden. Aber es gibt doch einen Park und eine alte Wassermühle in Alt-Marl, „ein technisches Baudenkmal aus der Mitte des 17. Jahrhunderts, das bis 1927 in Betrieb war“ und inzwischen das Heimatmuseum von Marl beherbergt. Dort sieht man viel von Strukturen, die sich rasant gewandelt haben.
Wobei der bislang jüngste Strukturwandel in Marl noch gar nicht abgeschlossen ist. Noch baut die Ruhrkohle AG in bzw. tief unter Marl Kohle ab. Das zu Anfang des 20. Jahrhunderts errichtete, nach der letzten Kaiserin benannte Bergwerk Auguste Victoria ist eines der letzten noch aktiven in Deutschland. Ende 2015 soll es, wie 2007 beschlossen, planmäßig geschlossen werden. Auf der offiziellen Marler Stadtgeschichts-Webseite steht zurzeit noch (unter 1898):
„Heute fördern die Bergleute die Kohle mit modernster Technik aus über 1.000 Metern Tiefe. Auguste Victoria gehört zu den leistungsfähigen Förderstandorten der RAG Deutsche Steinkohle. Das Bergwerk ist ein wichtiger Wirtschaftsfaktor und der zweitgrößte Ausbilder in der Region“.
Man möchte sich nicht vorstellen, wodurch diese Sätze dann ersetzt werden.
Jedenfalls, wer nicht auf gefälligen Städte mit hübsch restaurierten Marktplätzen und dann dann konzentrisch abnehmender Ansehnlichkeit besteht, sondern sich auch für schroffes Nebeneinander von Architektur und Stadtplanung aus zwar gar nicht so weit auseinanderliegenden, aber völlig unterschiedlichen Epochen interessiert, sollte sich Marl durchaus einmal anschauen. Übrigens begegnet man überall Marlern, die Mitglied der Freunde des Grimmepreises sind und engagiert über aktuelles Fernsehen diskutieren – zum Beispiel in diesem Jahr über die umstrittene Grimmepreis-Nominierung der Kakerlakensendung, also der RTL-Show „Ich bin ein Star, holt mich hier raus!“. Das zeigt, dass das Konzept der dezentralen Kulturstadt – in dem übrigens auch, wie hier auf den Fotos zu sehen, überall Kunstwerke herum im öffentlichen Raum stehen – durchaus aufgeht, und dass so ein Medien-Föderalismus sinnvoll ist. Würde der Grimmepreis in Berlin, Köln oder Hamburg vergeben, würde er wahrscheinlich längst wesentlich weniger hermachen.
Nachtrag 2016:
Im Dezember 2015 schloss die letzte Marler Zeche Auguste Victoria dann im Rahmen eines Festakts in Anwesenheit unter anderem des Ruhrkohle-Chors, der nordrhein-westfälischen Ministerpräsidentin Hannelore Kraft, des Vorsitzenden der mit der „sozialverträglichen Beendigung des subventionierten Steinkohlenbergbaus“ betrauten RAG-Stiftung, Werner Müller, sowie des Marler Bürgermeisters Werner Arndt („Es ist natürlich Schade, aber wir müssen nach vorne gucken“). Frei online verfügbar sind Berichte u.a. von wdr.de („Tränen unterm Förderturm“; zzgl. Multimedia-Bergbau-Reportage) und den WAZ-Funke-Medien. Der Fußball-Verein Schalke 04 lud die Belegschaft zum nächsten Bundesliga-Heimspiel ins Gelsenkirchener Stadion ein, der Bürgermeister kündigte das Vorhaben an, das rund 90 Hektar große Zechengelände bis 2020 „als neues Industriegebiet … für Logistik oder gemischte Gewerbebetriebe“ wiederhergestellt zu haben. Wobei es eine andere Frage wäre, wie groß im und ums Ruhrgebiet, wo das Angebot an industriehistorischen Denkmälern die Nachfrage mindestens sehr gut deckt, der Bedarf an neuen Industrieflächen ist.
Auf ihrer Internetseite mit dem geschichtlichen Überblick hat die Stadt Marl die heikle Klippe, wie mit der Zechenschließung umgehen, durch Ummodelung des Angebots jedenfalls umschifft: Über die 1990er Jahre geht der Rückblick anno 2016 Richtung Gegenwart nicht mehr hinaus. Vielleicht lässt sich in den 2020ern ja wieder etwas Positives vermelden.
Lieber Christian, ein sehr informativer und kritisch konstruktiv geneigter Artikel über Marl – den Versuch einer Stadt – wie es Peter Lilienthal in seinem Film über Marl aus dem Jahr 1963/64 geradezu visionär formuliert hat. Es gibt nur einen kleinen Fehler, den Du ex post korrigieren könntest: Der erwähnte Stadtteil heißt Marl-Sinsen. Wenn Du das nächste Mal nach Marl kommst lade ich Dich ein zu einer – Dein Urteil und deine Eindrücke weiter vertiefenden – Stadtführung. Ich finde es wichtig, dass angesichts des bevorstehenden Jubiläums des Adolf-Grimme-Preises im kommenden Jahr, möglichst viele kluge (An)Sichten, Erklärungen und Deutungen dieses Versuchs einer Stadt veröffentlicht werden. Besonders gespannt bin ich in diesem Zusammenhang auf den Film von Dominik Graf (AT: „Marl – Es werde Stadt“), der gerade in Vorbereitung ist und der zum Jubiläum fertiggestellt sein soll. Ich werde Dominik Graf den Link zu Deinem Blog zusenden. Lieber Gruß, Ulrich
Lieber Ulrich, danke sehr, jeweils. Sinsen ist korrigiert, und mehr Marl-Eindrücke gerne…