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Das Dorf, das mal Metropole war (Helmarshausen)

xHelmarshausen

Genau genommen ist Helmarshausen am Anfang des 21. Jahrhunderts kein Dorf, aber eine Stadt erst recht nicht. Seit 1972 ist es ein Ortsteil Bad Karlshafens (um das es hier auch schon ging), also nicht gerade einer brodelnden Metropole.

Es hat etwa 1800 Einwohner.

auf dem Weg nach Helmarshausen (Reinhardswald)

Von Karlshafen her führt ein schöner Fußweg durch den Reinhardswald – einen jener nordhessischen Wälder, die gern über die einst dort Märchen sammelnden Brüder Grimm vermarktet werden und an Sommertagen (ich war im August 2012 dort) tatsächlich verwunschen wirken können. Kommt man also aus dem Wald nach Helmarshausen, staunt man vielleicht zunächst über eine Menge Fachwerkhäuser und über den eindrucksvollen Schwerlastverkehr in der Hauptstraße.

in Helmarshausen (Bad Karlshafen)

Erst recht erstaunen dann aber das Areal um die gedrungene, hübsche Stadtkirche und vor allem die Information auf dort aufgestellten Texttafeln, dass Helmarshausen „eines der bedeutendsten Kunstzentren in Europa am Ende des 12. Jahrhunderts“ gewesen sei. Als es anno 1254 das Stadtrecht erhielt, hatte eine Reichsabtei im Ort schon über zwei Jahrhunderte Bestand. Dort war 1173 das Evangeliar Heinrichs des Löwen entstanden, dessen Fame als vor kurzem teuerstes Buch der Welt (vgl. den Beitrag über Wolfenbüttel hier) ja noch nachhallt. Ein Faksimile des Evangeliars ist in der Kirche ausgestellt (einer evangelischen und dennoch werktags geöffneten!), die offenbar 1799 wegen Baufälligkeit neugebaut wurde – also sehr alt eher aussieht als ist.

Helmarshausen (Bad Karlshafen), Stadtkirche
Helmarshausen (Bad Karlshafen), Evangeliar Heinrichs des Löwen als Faksimile

In der Abtei in Helmarshausen wirkte der Mönch Roger, „einer der bedeutendsten Künstler des deutschen Mittelalters“. „Roger, der geniale Künstlermönch“, wie er in einer Broschüre genannt wird, ist beinahe ein Name, den der „Wanderhuren“-Sender Sat.1 sich schützen lassen sollte („-mönch“ klingt natürlich leicht unsexy, aber da würde Sat.1 schon etwas einfallen…). Roger war vor allem Goldschmied; was er so schuf, ist bei europeana.eu zu sehen. Daneben war Helmarshausen auch für Buch-, Wand-, Tafel- und Glasmalerei bekannt.

Das Kloster verfiel, nachdem es bei Einführung der Reformation 1538 aufgelöst worden war. Auf einem Platz neben der kleinen Kirche sind heute die Grundrisse der damaligen Bauten markiert. Das war’s aber noch nicht mit den Helmarshauser Attraktionen. Über der Ortschaft thront eine Ruine, die einen in der Ansicht stärken kann, dass Ruinen definitiv auratischer sind als restaurierte historisierende Nachbauten

Helmarshausen (Bad Karlshafen), Burgruine Krukenberg, Rest der Kirche

Die Gemäuer der Krukenburg auf dem Krukenberg zeugen von den Zeiten, in denen die Reichsabtei um Selbständigkeit im Heiligen Römischen Reich kämpfte – gegen die Bischöfe von Paderborn, denen ein Kaiser sie geschenkt hatte, mit Kölner und Mainzer Erzbischöfen und/ oder gegen sie, sowie gegen die hessischen Landgrafen. Zentraler Bau ist eine Kirchenruine in so seltener Form, dass gleich noch ein Superlativ fällig wird: „die am vollständigsten erhaltene romanische Jerusalemkirche nördlich der Alpen“.

Die Story dahinter in Kurzform: Diese Kirche entstand nach Bauplänen der Jerusalemer Grabeskirche. So etwas war seinerzeit erheblich schwerer zu beschaffen als im heutigen Internetzeitalter. Im elften Jahrhundert schickte daher ein Paderborner Bischof den Helmarshauser Abt Wino nach Jerusalem, um die berühmte Kirche mit eigenen Augen anzuschauen. Als der 1033 dort eintraf, kam er jedoch zu spät, um den 1009 zerstörten Bau vorzufinden, und zu früh für den 1048 errichteten Nachfolgebau. Daher soll Wino halt Pläne orientalischer Rotunden- bzw. Kreuzkuppelkirchen mitgebracht haben, wie sie im nördlichen Europa selten waren. Nach denen wurde eine nicht mehr im Originalzustand erhaltene Kirche in Paderborn und im 12. Jahrhundert dann diejenige auf dem Krukenberg errichtet.

Helmarshausen (Bad Karlshafen), alter Wehrturm

Was das damalige Heilige Land mit dem heute Nordhessen heißenden Landstrich verband: Es wurde oft gekämpft und zerstört. Im Zuge solcher Kämpfe wurde die Kirche mit Gemäuern umgeben und zur Kirchenburg. Sie sei aber niemals zerstört worden, sondern vor sich hin verfallen, nachdem die Hessen Helmarshausen erobert hatten und es an die Peripherie rückte. Das und eine Menge mehr über die bewegte Geschichte erfährt man in der Broschüre „Beiträge zur Geschichte der Stadt, der Reichsabtei und der Kunstwerkstätten Helmarshausen“. Exemplare aus der 1986 (immer noch vor der Internetära!) gedruckten vierten Auflage waren 2012 noch am Kiosk an der Krukenburg (oder sind womöglich noch im Heimatmuseum) preiswert erhältlich.

Das heutige Helmarshausen brummt wirklich nicht vor prallem Leben – es sei denn, ein Lkw donnert durchs Dorf. Aber ein eindrucksvolleres Beispiel für die Vergänglichkeit selbst Jahrhunderte umspannenden Ruhms (und für dessen sehr ansehnliche Relikte) ist mir in Deutschland noch nicht begegnet.

Helmarshausen (Bad Karlshafen), von der Krukenburg aus gesehen

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