In Salzwedel gibt es u.a. ein Automatenmuseum: Wer einen Euro einwirft, dem öffnet sich (innerhalb der Öffnungszeiten) die Tür. In zwei Räumen ist dann mehr zu lesen als zu sehen; das Preis-Leistungs-Verhältnis ist in Ordnung. Man kann in eine besonders bizarre deutsche Staaten- oder Föderalismus-Geschichte eintauchen. Woran das inzwischen kleine Museum im Erdgeschoss der „Kreismusikschule des Altmarkkreises Salzwedel“ erinnert:
Dort wurde am 12. Februar 1814 Jenny von Westphalen geboren. Die Region in Sachsen-Anhalt, in der Salzwedel liegt, heißt eigentlich Altmark, weil sie der älteste Teil der Mark Brandenburg war. Nach der ist das heutige Brandenburg benannt, das schon seit dem Mittelalter so hieß (und nur zwischendurch für ein paar Jahrhunderte auch den Namen „Preußen“ verpasst bekam). 1814 allerdings lag Salzwedel in Westphalen – dem französischen Kunststaat, über den schon allerhand gestritten wurde. Eine seiner bekanntesten Verteidigungen, „Das Musterkönigreich“, hat Arno Schmidt geschrieben; es war ein Verfassungsstaat mit Glücks-Versprechen im Verfassungs-Text, aber auch ein Satellitenstaat des französischen Kaisers Napoleon.
Mit dem, was vorher Westfalen hieß und und auch heute heißt, hatte dieses Westphalen kaum zu tun. Obwohl der ganz neue Staat insgesamt bloß sieben Jahre bestand, änderten sich seine Grenzen noch zweimal. Anfangs war immerhin ein Teil des heutigen Ostwestfalen westphälisch, in seinen letzten drei Jahren bildete dann die Weser an der Porta Westfalica, die sehr deutlich das Tor nach Westfalen versinnbildlicht (z.B., wenn man mit dem Zug von Berlin nach Westen fährt), zwar auch das Tor ins napoleonische Westphalen, aber genau anders herum: Es begann erst auf der anderen Seite der Porta. Schließlich gehörte das ursprüngliche Westfalen seinerzeit zum von anderen Verwandten Napoleons bzw. ihm selbst regierte Großherzogtum Berg.
Dafür reichte das damalige Ostwestphalen bis nach Salzwedel im heutigen Sachsen-Anhalt. Wahrscheinlich hatten die Franzosen den Landschaftsnamen vom Westfälischen Frieden von 1648, der vielleicht wichtigsten Etappe für die alte französische Großmachtstellung des absolutistischen Sonnenkönigs, im Ohr und fanden ihn schön.
Wenn nun also im damaligen Westphalen eine Jenny von Westphalen geboren wurde, muss es sich um eine Prinzessin oder so was gehandelt haben, oder?
Überhaupt nicht. Westphalen regierte der auch unter dem sympathischen Spitznamen „König Lustik“ noch etwas bekannte König Jerome von Kassel aus. Der Mann, der mit seiner Familie das damalige Bürgermeisterhaus in Salzwedel bewohnte, war bloß Landrat und trug den Namen seines Staats ähnlich zufällig wie dieser selbst. Beziehungsweise hatten seine aus dem Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel stammenden Vorfahren zunächst auf den um Braunschweig herum noch heute verbreiteten, bürgerlichen Namen Westphal gehört. 1764 war Jennys Großvater wegen Verdiensten „als militärischer Berater des Herzogs Ferdinand von Braunschweig im Siebenjährigen Krieg“, einem der vielen Kriege, die im 18. Jahrhundert in der Gegend tobten, geadelt worden. Statt „von Westphal“ nannten er und dann auch seine Nachkommen sich lieber „Edler von Westphalen“.
Sein Sohn wurde braunschweigischer Beamter. Nach der preußisch-braunschweigischen Niederlage gegen Napoleons französische Armee gab es dieses Braunschweig zeitweise gar nicht mehr (weil sein ganzes, kleines Gebiet auch westphälisch wurde), und Ludwig von Westphalen wurde westphälischer Beamter. 1809 wurde er zum Unterpräfekt befördert und nach Salzwedel versetzt – immerhin der wohl höchste Posten im Ort. Und als nach den Niederlagen von Napoleons Armee die zwischendurch zeitweise russisch besetzte Gegend wieder preußisch wurde, bildeten die Preußen erstens eine ganz neue Provinz namens Sachsen (die außer der alt-brandenburgischen Altmark den großen Teil Sachsens umfasste, den Preußen auf dem Wiener Kongress gewonnen hatte; das heutige Sachsen-Anhalt besteht weitgehend aus diesem Gebiet). Zweitens übernahmen sie Ludwig von Westphalen und versetzten ihn 1816 als preußischen Beamten wieder weiter – an den Südwestrand der in den neu gewonnenen rheinländischen Gebieten völlig neu geschaffenen Rheinprovinz.
Das spricht dafür, dass er als guter Beamte galt. Schließlich waren die damaligen Verwaltungsreformen modern für ihre Zeit, schließlich war die Gegend um Trier (das vorher, zur Napoleonszeit und schon seit der französischen Revolution, unmittelbar französisch gewesen war) nie zuvor preußisch gewesen und sollte integriert werden.
Ein richtig überzeugter Preuße ist Ludwig von Westphalen aber wohl nicht gewesen. Vielmehr soll er in Trier mit Einheimischen, darunter einem befreundeten Rechtsanwalt, abends am Kornmarkt bei Moselwein die Marseillaise gesungen haben.
Der Anwalt hieß Marx, sein Sohn hieß Karl und hat später dann Jenny geheiratet. Das ist der Grund, aus dem viel später, in einem wieder völlig anderen, auch gut gemeinten Staat, in ihrem Geburtshaus in Salzwedel ein Museum eingerichtet worden war: Die noch junge DDR war froh, auf ihrem Gebiet (gerade noch – nach Lüchow, zu einem der späteren Atomklos der BRD, sind’s keine 15 Kilometer) wenigstens einen echten Marx-Erinnerungsort gehabt zu haben.
Als marxistisch-leninistische Bildungsstätte wurde 1964 ein Gedenkzimmer der DDR- Öffentlichkeit übergeben und dann zum „Museum über die Familie Marx“ ausgebaut. Bis in die frühen 1990er hinein war es wohl deutlich größer und anders aufgemacht als das, was heute als Automatenmuseum in der Jenny-Marx-Straße für einen Euro anschaubar ist.
Salzwedel selbst trägt einen vergleichsweise schlüssigen Namen. Im Mittelalter lag es auf einem Handelsweg des in Lüneburg gewonnenen Salzes und wurde dadurch so reich, wie man einigen sehr großen Backsteinkirchen (eine davon, die Marienkirche mit aus manchen Blickwinkeln bemerkenswert schiefem Turmhelm, steht in unmittelbarer Nähe des Marx-Hauses) noch ablesen kann. Dass die kleinen Arme des eher unbekannten Flusses Jeetze, die die Innenstadt durchziehen, früher zum Warentransport genutzt wurden und einen Hafen bildeten, fällt heute schwer sich vorzustellen.
Warum genau Salzwedel sich 2008, so wie diverse weitere, noch unbekanntere altmärkische Städte, den Namenszusatz „Hansestadt“ verpasst hat, erschloss sich mir nicht genau, hat aber Gründe. Jedoch der außerdem gern genutzte Beiname „Stadt der Baumkuchen“ erschließt sich. Diese – nicht-salzige – Kuchenart wird mindestens seit dem 19. Jahrhundert dort gebacken und exportiert. Bis ins Jahr 1807 oder noch länger wird diese Tradition zurück geführt, bis knapp vor Jennys Geburt also. Und auch unter marktwirtschaftlichen Bedingungen hat sie sich erhalten.
Ein sehenswertes großes Museum besitzt Salzwedel ebenfalls. Es liegt nicht weit vom Automatenmuseum in Jenny Marx‘ Geburtshaus entfernt. Noch ein kleiner Treppenscherz der Stadtgeschichte: Gleich nebenan auf der anderen Seite, in der Jenny-Marx-Straße Nr. 16, erinnert ein Haus (kein Museum) an den anderen immer noch geläufigen deutschen Rauschebart-Träger des 19. Jahrhunderts. Friedrich Ludwig Jahn, der spätere „Turnvater“/ -schrat, hat als Schüler des Salzwedeler Gymnasiums 1791- 94 selbst in Salzwedel gelebt, anders als der Sozialismus-Vater.