In Deutschland sind Revolutionen, zumindest vor 1989, nie so richtig gelungen. Selbst als im November 1918 der Kaiser und eine ganze Handvoll Könige, Großherzöge und weitere Monarchen all ihre Macht verloren, wurden sie allenfalls halb gestürzt. Halb verzichteten sie wegen der Weltkriegs-Niederlage und aus weiteren Gründen von selber drauf. Mit der Folge, dass der demokratischen Weimarer Republik zeit ihres kurzen Bestands fehlte, was man gegenwärtig ein ordentliches Gründungs-Narrativ nennen würde. Im Nachklang der Französischen Revolution, während der Napoleonszeit sind zwar viele der bis dahin irre zahlreichen deutschen Kleinstaaten von den kunterbunten Landkarten hinweggefegt worden – aber selten bis gar nicht aus irgendeinem revolutionären Impuls heraus. Was ziemlich unbekannt ist: Ein deutscher Kleinstaaten-Fürst allerdings verlor damals genau so wie Ludwig XVI. und Marie-Antoinette von Frankreich seinen Kopf unter der Guillotine.
Friedrich III. von Salm-Kyrburg hieß er und ist fast so unbekannt wie der kleine Staat, den er beherrschte. Wie so gut wie jeder Fürst des Spätabsolutismus besaß er mehrere Residenzen. Die, in der er sich am liebsten aufhielt, hatte er selber erbauen lassen, und sie trägt auch heute noch seinen Namen. Im Hôtel de Salm, in Paris direkt an der Seine gleich neben dem Musee d’Orsay, befindet sich heute das Museum der französischen Ehrenlegion. In Paris hatte Friedrich freilich überhaupt nichts zu regieren. Das tat der erwähntte Ludwig XVI.. Friedrichs Fürstentümchen befand sich rund um die Kleinstadt Kirn in der Weinregion Nahe im heute rheinland-pfälzischen Hunsrück.
Überliefert ist, dass er sich nach Ausbruch der Französischen Revolution 1789 nicht nur in Paris als deren Anhänger bekannte, sondern sogar nach Kirn reiste und seine deutschen Untertanen als „Mitbürger“ ansprach. Ob das aus Begeisterung für die frisch formulierten Menschenrechte und weitere Ideale geschah oder eher damit zusammenhing, dass Friedrich sich horrend überschuldet hatte, wenn nicht gar offiziell pleite war – unklar. Dass heutzutage nicht sehr viel Material über ihn zu finden ist (Wikipedia), hängt jedenfalls damit zusammen, dass er 1794 in Paris unter der Guillotine starb, womit zugleich sein Kleinstaat für immer verschwand. Ob er in der späten Phase des Terreur eher hingerichtet wurde, weil er zur Partei des Robespierre-Gegners Danton gehörte oder weil die Revolutionäre ihn trotz all seines Engagements als Agent der feindlichen deutschen Feudalisten einstuften, ist auch diffus. Dass sie einen deutschen Fürsten aufs Schafott zerrten, wussten sie wohl. (Mehr findet sich frei online etwa in dieser Buchbesprechung …).
Kirn zählt heute rund 8.000 Einwohner. Seine Stadtpläne sind eher Landkarten. Auf ihnen finden sich zahlreiche Symbole für Burgen und Schlösser, schon weil im Hunsrück viele schroffe Felsen aufragen, darunter solche, die erst auf den dritten Blick kundtun, dass sie auch mal teilweise von Menschenhand errichtete gebaute Burgen darstellten. Was aus Friedrichs Zeit noch steht, im Zentrum nahe der Nahe (und der typisch Nachkriegs-Pfälzisch geschwungenen Autobrücke über sie, die Bahnstrecke und die Landstraße hinweg), ist auf Plänen nicht als Schloss verzeichnet. Vom Schloss „Amalienlust“ zeugt wenig mehr als das Portal-Schild der gleichnamigen Pizzeria, die in einem der Gebäude heute ansässig ist. Friedrich III. allerdings hatte Amalienlust zugleich mit seinem Hôtel an der Seine, in den 1780er Jahren, vom Pariser Architekten Jacques Denis Antoine (Wikipedia auf englisch) als Sommerresidenz errichten lassen. Genau solche gleichzeitig verfolgten Bauvorhaben dürften zu den Finanzproblemen des Kleinstaat-Fürsten beigetragen haben.
Außer einem Pavillon am Fluss, der später für den Eisenbahn-Bau abgerissen wurde, soll alles erhalten sein. Heute erscheinen die drei schön dezenten Bauten eher wie geschmackvoll zurückhaltende Bürgerhäuser. Dass sie einst sogar wohl bis hin zu zur rund zehn Jahre zuvor, noch vom Hofbaumeister des Vorgänger-Fürsten Dominik errichteten hufeisenförmigen Fürstlichen Kellerei ein Ensemble bildeten, kann man sich schwer vorstellen. Auch weil dazwischen inzwischen das Gelände einer großen, auch schon traditionsreichen Fabrik liegt.
Seinen Namen trägt Amalienlust Friedrichs Schwester wegen. Die beiden hatte eine Doppelheirat mit zwei Fürsten-Geschwistern aus dem kaum größeren, aber etwas langlebigeren Kleinstaat Hohenzollern-Sigmaringen unternommen. Amalie Zephyrine lebte dann allerdings, genau wie ihr Bruder, anders als ihr Sigmaringer Gatte, auch lieber in Paris. Von ihr ist mehr überliefert als vom enthaupteten Friedrich, schon weil sie deutlich länger am Leben blieb. Sie konnte nicht nur ihn in Paris bestatten lassen, sondern sogar sowohl dessen Sohn, ihrem Neffen Friedrich IV., als auch ihrem Sigmaringer Ehemann trotz der radikal bereinigten deutschen Landkarten eine in der napoleonischen Kaiserzeit fortbestehende Herrschaft sichern – weil sie in der französischen Hauptstadt einflussreiche Bekanntschaften geschlossen hatte, zum Beispiel mit Napoleons erster Frau, der späteren zeitweiligen französischen Kaiserin Joséphine. Wie Hohenzollern-Sigmaringen noch bis 1849 als souveräner Staat bestand, und wie des guillotinierten Friedrichs gleichnamiger Sohn wenige Jahre lang nominell souverän, freilich von Napoleons willkürlichen Gnaden, einen völlig anderen Kleinstaat regieren konnte, das wären zwei völlig andere Geschichten. Zumal Friedrich IV. aus dem inzwischen französischen Kirn in eine völlig andere Region versetzt wurde: eine sehr westwestfälische um Schloss Anholt herum, das heute noch Salmern gehört.
Zurück nach Kirn: Wesentlich auffälliger als das dezente Amalienlust-Ensemble thront über Kirn eine Burgruine, die wie die allermeisten linksrheinischen Burgen vom französischen Ancien Regime zerstört wurde, diese in den 1730er Jahren im Polnischen Erbfolgekrieg (was zeigt, dass seinerzeit auch schon Geopolitik betrieben wurde). Von der mit 120 mal 80 Metern Ausmaß ziemlich großen Kyrburg aus hat man einen schönen Blick über den Hunsrück. Unterhalb der Burg, an der sich heute übrigens auch ein Whisky-Museum befindet, im Trübenbachtal, lässt sich gut wandern, zum Beispiel in den nahen Stadtteil Kirnsulzbach (der für Freunde territorialer Kuriositäten die Überraschung bereit hält, dass er nach der Napoleonszeit, ab dem Wiener Kongress 1815, nicht wie Kirn zu Preußen gehörte, sondern mehr als hundert Jahre lang zu Oldenburg in Oldenburg). Oder landeinwärts, wo weitere Burgruinen warten wie der mehr gewachsen als gebaut erscheinende Steinkallenfels. Aus Kirner Blickwinkelns muss man sehr genau hinschauen, um oben auf dem imposanten, gern von Kletterern bekletterten Felsen Reste einer gebauten Burg zu erkennen. Von der Rückseite sieht man besser, dass sogar auf zwei der drei Felsen Gemäuerreste stehen, und noch besser vom nächsten Schloss nördlich.
Dieses Schloss Wartenstein sieht aus der Distanz nicht sehr schlossig aus, obwohl es prominent in der Landschaft prangt. Dass es durchaus eines ist und sich dahinter Reste der nächsten älteren Burg befinden, sieht man erst aus der Nähe. In Wartenstein sitzt ein rühriges Museum, das unter anderem zeigt, wie mühsam lange Zeit im Hunsrücker Soonwald mit Löffeln Baumrinde von Eichen abgeschabt wurde, um daraus Lohe oder Lohmehl herzustellen, und zwar damit in Kirn Gerber wiederum Leder herstellen konnten. Das gibt eine Vorstellung davon, wie Friedrichs Untertanen einst das Budget ihres Fürsten erwirtschafteten … Ebenfalls wandernah liegt Schloss Dhaun, das Kinder durch die durch den Fels darunter führenden Gänge erfreut. In dem war die Adelssippe mit dem schönen Namen Wild- und Rheingrafen länger ansässig. Diese Familie teilte ihre immer zerklüfteten und daher insgesamt selten großen Herrschaftsgebiete oft unter Erben auf, weshalb so viele Schlösser entstanden, und nahm, nachdem sie das elsässisch-lothringische Burgschloss Salm geerbt hatte, diesen Namen an, den Nachkommen in verdoppelter Form, als Salm-Salm also, immer noch führen (und sich z.B. Deutschlands „nachweislich … ältesten Weinguts in Familienbesitz“ rühmen). Den Namen Kirn findet man noch in manchem Portemonnaie – wegen der Leder-Vergangenheit. Einige Lederbetriebe bestehen weiterhin, einige stellen zukunftsträchtigere Kunststoffen her wie die nahe am Amalienlust-Ensemble gelegene Firma Simona.
Paris war zu Friedrichs III. von Salm-Kyrburgs Zeiten wie heute eine Metropole, in der sich viel Macht, Reichtum und Möchtegern-Reichtum ballte, und ein Inbegriff des Zentralismus. Das kleine Kirn war seinerzeit sozusagen ein gutes Beispiel für Hardcore-dezentralen Föderalismus.
Schon weil sich im heutigen Stadtgebiet zu Zeiten des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation nicht bloß ein Herrschaftsgebiet befand, sondern mit dem besonders komplex strukturierten, von zeitweise mehr als dreißig Adelssippen anteilig zugleich besessenen Steinkallenfels mindestens ein weiteres. Oder war Wartenstein gleich noch eines? Dass die im Kern alte Kirche am Hahnenbach (der im Stadtgebiet durchaus ein Fluss ist und einst den keltischen Namen Kyr trug) evangelisch ist, wohingegen das direkt daneben liegende Rathaus von Friedrichs fürstlichen Vorgängern einst als katholische Klosterschule in Auftrag gegeben wurde, und diese Kirche einige Jahrhunderte simultan genutzt wurde, wäre noch so eine einst brisante, heute nurmehr kuriose Geschichte … Keine Frage, Paris bietet viel mehr Attraktionen. Eine Reise nach Kirn kann sich aber ebenfalls lohnen.
Dieser Text basiert auf Reisen nach Zerbst im Frühjahr 2022 (als auch alle Fotos entstanden). Er entstand mit freundlicher Unterstützung der Aktion „Neustart Kultur“ der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien und der VG Wort.
Toll geschrieben. Obwohl ortsnah wohnhaft, war mir das völlig unbekannt.
Das Tor zur Welt.