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Wo Deutschland mal österreichisch war: Herzogenrath

Zu den hundert spektakulärsten deutschen Mittelstädten dürfte Herzogenrath eher nicht zählen. Der zentrale Ferdinand-Schmetz-Platz am Eingang der kleinen Fußgängerzone zum Beispiel

… falls man etwas Positives über ihn sagen wollen würde: Wahrscheinlich lässt er sich leicht sauber machen. Überquert man das rauschende Flüsschen Wurm in Richtung Westen, wird es etwas interessanter.

Zumindest thronen dort über der (von Halden als Folge der abgeschlossenen Steinkohle-/ Bergbau-Vergangenheit abgesehen) flachen Landschaft zwei markante Bauwerke.

Die doppeltürmige Kirche ist mal ein gelungener historistischer Bau. Man würde sie für deutlich älter als bloß gut hundert Jahre halten. Umso neuer wirkt das kleine Burgschloss Rode wenige hundert Meter weiter.

Dabei enthält es einen an seinem Feldgestein erkennbar alten, im 14. Jahrhundert erbauten Turm. Ansonsten ist’s ein Nachbau, den in den 1870er Jahren ein lokaler Nudel-, pardon: Nadel-Fabrikant namens Schmetz errichten ließ.

Noch spektakulärer wird es noch ein paar hundert Meter weiter westlich, wenn man zum Kloster-Kirchen-Komplex Rolduc gelangt. Spektakulär groß ist er – und liegt bereits im ziemlich anderssprachigen Nachbarland. Bei der ehemaligen Abtei, einem heutigen Hotel, handelt es sich um den einst größten Klosterkomplex der heutigen Niederlande. Herzogenrath geht bemerkenswert nahtlos in seine niederländische Nachbarstadt Kerkrade über. Und Rolduc lässt sich als Übersetzung von Herzogenrath in die einst dominante Weltsprache Französisch verstehen. All das, Herzogsburg und Kloster, Herzogenrath und Kerkrade, gehörte gut 700 Jahre lang zusammen.

Erst auf dem Wiener Kongress 1815, auf dem nach den napoleonischen Kriegen Europas Landkarte ziemlich neu gestaltet wurden ganz ohne die betroffenen Menschen zu fragen (sondern eher militärstrategisch und die Seelen, also Einwohner bzw. Steuerzahler zählend), wurde eine Grenze gezogen, mehr oder weniger an der Wurm entlang: Was westlich davon liegt, gehört seither zu den Niederlanden, das östliche Herzogenrath kam zum Königreich Preußen bzw. zu Nordrhein-Westfalen als einem seiner Nachfolge-Bundesländer.

Vorher war die Territorialgeschichte auch schon verzwickt, betraf aber die gesamte Region. Herzogtum Limburg hieß sie (nicht zu verwechseln mit heute deutschen Limburgs wie der Stadt an der Lahn oder der Hohenlimburg bei Hagen, die ebenfals einer Grafschaft den Namen gab) und gehörte im Mittelalter zum Herzogtum Burgund und dann den Habsburgern, konkret: zunächst zu den spanischen, anschließend zu den österreichischen Niederlanden – was zu noch einem Kuriosum führt: Herzogenrath bei Aachen ist eine der nördlichsten deutschen Städte, die einmal österreichisch waren.

Ein paar Spuren dieser Zugehörigkeit zeigen sich noch immer: Einerseits zeugen die erwähnten Kloster und Kirchen davon, die allesamt katholisch sind, was man zumindest in den Niederlanden nicht unbedingt erwarten würde. Die Habsburger duldeten bis tief in die Neuzeit keine Protestanten in ihren Ländern. Außer der Konfession hielt das alte Herzogtum Limburg noch etwas zusammen: eine repressive Obrigkeit bzw. Aufbegehren gegen diese. Davon zeugt der Brunnen auf dem eingangs erwähnten Ferdinand-Schmetz-Platz. Die Figur stellt einen „Bockreiter“ dar. So hieß eine einst in der Region bekannte Räuberbande. Bzw., in den Niederlanden ist sie noch immer bekannt, wie der im Vergleich zu dem über die Bockreiter deutlich längere Wikipedia-Artikel über die Bokkenrijders zeigt. In Deutschland erinnert sich jenseits von Herzogenrath niemand an sie, woran auch eine niederländisch-deutsche Fernsehserie aus den 1990er Jahren nichts änderte. Dabei wurden im späten 18. Jahrhundert mehr als 300 Bockreiter (und Bockreiterinnen) hingerichtet, schreibt die Wikipedia auch auf deutsch.

Zwischen Kerk- und Herzogenrade/-rath hatte die Grenzziehung 1815 noch längst nicht alle Verbindungen gekappt. Vielmehr gehörte die niederländische Provinz Limburg, die mit Maastricht als Hauptstadt immer noch besteht, im 19. Jahrhundert zwar zu den Niederlanden, aber von 1839 bis 1866 in einer Art doppelter Staatsbürgerschaft außerdem noch mal zum Deutschen Bund (weshalb die Zeile „Von der Maas bis an die Memel“ in Hoffmann von Fallerslebens „Lied der Deutschen“ anno 1841 auch zutraf). Fast könnte man die Frage anschließen, ob der in Deutschland gegenwärtig wohl bekannteste Kerkrader, der Ex-Fußballtrainer Huub Stevens, Deutsch eigentlich als Fremdsprache lernte oder eher Limburgisch bzw. Südniederfränkisch sprach und spricht … Erst seit den Weltkriegen entwickelten sich Herzogenrath und Kerkrade, nachvollziehbarerweise, „mit den Rücken zueinander“ , steht im „Zeitraster“ auf eurode.eu. „Eurode“, so heißt der grezüberschreitende „Zweckverband“, den Herzogenrath und Kerkrade kurz vor der Jahrtausendwende gründeten. Ob der Höhepunkt vielleicht schon wieder überschritten wurde, das könnte man sich anhand dessen, was das Zeitraster seit 2012 anzeigt, fragen.

Doch zumindest wie einst bei den Bockreitern, also jenseits des Gesetzlichen, läuft es im alten Limburg. Davon zeugt etwa der empfehlenswerte Podcast „Narcoland – Das Meth-Kartell im Dreiländereck“ der „Aachener Zeitung“, der dieses Jahr für den Grimme Online Award nominiert war (ihn allerdings nicht gewann, obwohl ich in der Jury dafür stimmte). In der Abschlussfolge geht es unmittelbar um Herzogenrath, das, wenn auch aus deutscher Sicht an der Peripherie, eben mitten in Mitteleuropa liegt.

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