In vielen Orten setzt die Tourismuswerbung auf local heroes, also mit dem Ort verbundene historische Gestalten, auf deren Spuren sich Stadtrundgänge gestalten lassen, oder Erlebnisführungen. Viele Touristen werden gerne von Guides (bzw. Cicerones) in attraktiven Kostümen an Originalschauplätze interessanter Geschichten geführt. Das sorgt dann wiederum für gutes Fotomaterial in Broschüren und Internetaufritten.
Oft bieten sich natürlich diejenigen Fürsten an, die das jeweilige Schloss hatten erbauen lassen. Butzbach etwa, eines der keineswegs wenigen krassen Fachwerkstädtchen Hessens, hat Landgraf Philipp (dem in der aktuellen Saison „so manche Wildsau ‚durch die Lappen'“ ging und an einem Butzbacher „Tatort“ „ein mysteriöses Ereignis“ widerfuhr …).
Es hat ihn sogar exklusiv, denn mit dem gleichnamigen Landgraf , der den Beinamen „der Großmütige“ trug und während der Reformation weit über Hessen hinaus Bedeutung besaß (ihm vor allem ist „die Erfindung der Konfirmation … zu verdanken“, weiß evangelisch.de; allerdings führte er auch „eine Zweitehe“, die Martin Luther vor allerhand Rechtfertigungsprobleme stellte … ), ist er nicht identisch.
Jener Großmütige hatte als letzter Fürst überhaupt über ganze Hessen geherrscht (das nicht dem heutigen Bundesland entsprach, aber relativ ähnlich war), bevor das Land zersplitterte. Bzw. zersplitterte dieser Philipp es selbst, indem er es unter seinen Söhnen in mehrere Territorien aufteilte. Als einer seiner Enkel regierte der Butzbacher Philipp, III., von 1609 bis 1643 ein noch kleineres Gebiet: die Landgrafschaft Hessen-Butzbach. Er blieb auch deren einziger Herrscher; die kleine Landgrafschaft hörte mit seinem Tod schon wieder zu bestehen auf. Und genau genommen beherrschte er nicht mal die ganze Kleinstadt, da Butzbach bis 1741 nur zu drei Vierteln zu Hessen gehörte (und zu einem Viertel den Grafen von Solms).
Von dieser Herrschafts- Struktur zeugen mitten in der Kleinstadt heute noch zwei bloß wenige hundert Meter von einander entfernte Schlösser: das kleinere Solmser Schloss und das größere des Landgrafen.
Dieses 1603 weitgehend neugebaute Schloss, in dem Philipp III. residierte, war seinerzeit vermutlich nicht gar so groß, wie es heute ist, aber ziemlich groß und repräsentativ. Ein Renaissanceportal aus Philipps Zeiten ziert den großen Mittelflügel. Vergrößert wurde es später für eine Kasernen-Nutzung ab den 1810er Jahren, derentwegen das Gebäude heute (in der Wikipedia und auf Butzbacher Texttafeln) als „eine der ältesten und am längsten genutzten“ Kasernen überhaupt gelten kann. An einem Seitenflügel wiederum prangt ein Adler, der seine Schwingen offenkundig zeitweise über einem Hakenkreuz gespreizt hatte.
Dieser Gebäudeteil wurde also noch deutlich später errichtet – und dennoch lange genutzt: Nach dem Zweiten Weltkrieg war die US Army in der Gegend um Frankfurt lange stark vertreten, wovon vor allem Elvis-Presley-Memorabilien in Butzbachs Nachbarstädtchen Friedberg und Bad Nauheim zeugen. Bis 1991 diente das vergrößerte, im Kern aus Phillipps III. Zeiten stammende Schloss als Kaserne. Inzwischen fungiert es als Landratsamt und Veranstaltungsort.
In der längsten Phase der Regierungszeit Philipps von Hessen-Butzbach tobte der Dreißigjährige Krieg, an dessen Schrecken zurzeit wegen seines Beginns vor 400 Jahren erinnert wird. Der Landgraf sorgte dafür, dass seine Residenzstadt zu seinen Lebzeiten davon weitgehend verschont blieb. Das war durchaus bemerkenswert in der Gegend (aus der mit Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen schließlich auch der bekannteste zeitgenössische Zeuge dieses Krieges stammte) und trug zu Philipps Ruhm viel bei. Außerdem bei trugen sein Interesse an Wissenschaften wie der Astronomie. Zu seinem Schloss hatte einst eine Sternwarte gehört. Daher soll Johannes Kepler Butzbach zweimal besucht und Galileo Galilei immerhin brieflich mit dem Landgrafen korrespondiert haben. Der Butzbacher Philipp ist also ein ordentlicher, gegenwartstauglicher local hero, wie ihn keine Kleinstadt des 21. Jahrhunderts sich einen besseren wünschen könnte. Bloß war er halt ein absolutistischer Fürst.
Und da kommt der zweite lokale Held ins Spiel, über den Butzbach sympathischerweise überdies verfügt. Er lebte rund zwei Jahrhunderte später, und seine Stadt führt ihn seit 2011 sogar im Beinamen im Logo. Seither nennt Butzbach sich „Weidigstadt“.
Sympathisch ist das, weil Friedrich Ludwig Weidig ein idealtypisches Gegenprogramm zum absolutistischen Feudalismus verkörpert(e) – dermaßen, dass er anno 1837 in der Hauptstadt des damaligen Großherzogtums Hessen-Darmstadt mehr oder weniger zu Tode gefoltert wurde. Der Co-Verfasser des konspirativen Flugblatts „Der Hessische Landbote“ (gemeinsam mit Georg Büchner) kann sozusagen als „Märtyrer der Medienfreiheit“ gelten. So heißt die evangelisch.de-Medienkolumne, die über ihn vor kurzem schrieb.