Die Bundesländer Nordrhein-Westfalen und Hessen haben eine gemeinsame Grenze. Die linksrheinische Stadt Neuss allerdings liegt weit davon entfernt. Und doch, wenn man aus der Neusser Fußgängerzone, die wie viele westdeutsche Fußgängerzonen dicht mit ehemals funktionalen Nachkriegs-Neubauten bebaut ist, in Richtung Rhein geht (der seit einigen Jahrhunderten ein paar Kilometer entfernt von der Innenstadt fließt), kann man an einer ehemaligen katholischen Kirche ein seltsames Schild entdecken.
Drauf steht:
„Am 2. Juli 1651 rückte der Hesse auf die Fürsprache der hehren Jungfrau aus unserer Stadt ab“.
Hm, was hat Neuss gegen die Hessen? Die Jahreszahl deutet an: Das Ereignis steht im Zusammenhang des 30-jährigen Kriegs. Wobei der schon 1648 endete, sonst wär’s ja ein 33-jähriger Krieg gewesen.
Zu den komplexen Hintergründen gehört, dass die sehr alte Stadt Neuss am Ende des Mittelalters und in der frühen Neuzeit in ziemlich internationalen Kriegen eine wichtige Rolle gespielt hatte. (Dass es selbstverständlich immer schöner ist, in Kriegen keine Rolle zu spielen, versteht sich …)
Im Krieg mit Karl dem Kühnen
Seinerzeit zählte Neuss zu den wichtigsten und reichsten Städten des Kurfürstentums Köln – auch deshalb, weil das wichtigere, reichere Köln als Reichsstadt nicht zum Kurfürstentum gehörte. Als Festung international so berühmt, dass dort noch heute eine Texttafel „Europa sah auf Neuss“ steht, wurde Neuss anno 1474/75. Fast ein Jahr lang belagerte damals der Burgunderkönig … nein Burgunderherzog Karl der Kühne, der gerne zum König gekrönt worden wäre (und als französischsprachiger Herrscher von der klangschönen Alliteration eher nichts gehabt hätte), Neuss mit einer gewaltigen Armee. 14.000 oder noch viel mehr Soldaten kamen aus ganz Europa. Doch die Festung Neuss erobern konnten sie nicht. Kurz zuvor war das europäische Druckwesen erfunden worden. Daher gingen viele Nachrichten zu diesem Krieg über den Kontinent. Außer um von den Stadtmauern auf die Angreifer hinab gekippte Jauche ging es auch um eine Bittprozession der Belagerten zur Marienkapelle. Nicht nur die Neusser führten ihren Erfolg besonders auf ihre Gläubigkeit zurück. Viele von den Belagerern taten das anschließend auch, weshalb nach diesem Krieg Wallfahrer aus ganz Europa nach Neuss pilgerten.
Nun war Neuss zwar als Festung europaweit berühmt. In späteren Kriegen hielt sie aber nicht mehr stand. In den 1580er Jahren tobte mit dem „Truchsessischen“ Krieg ein von protestantischen und katholischen Mächten sehr gewaltsam geführter echter Religionskrieg in der Region. Neuss wurde von der einen, dann von der anderen Seite erobert und gründlich zerstört. Jeweils wurden viele Einwohner massakriert.
Nachdem der Anstifter Gebhard Truchsess von Waldburg (der als katholischer Kölner Kurfürst und Erzbischof heiraten und evangelisch werden und das Kurfürstentum behalten wollte …) sich aus dem Krieg verabschiedet hatte, wurde Neuss zum Nebenrkriegsschauplatz des Achtzigjährigen Kriegs der Niederlande. Darin befreiten die protestantischen Niederländer sich von den katholischen Spaniern (deren habsburgischer König die Niederlande übrigens geerbt hatte, nachdem Karls des Kühnen Tochter 1477 den Sohn des deutschen Kaisers geheiratet hatte …). Wahrscheinlich tut man beiden beteiligten Seiten kein großes Unrecht mit der Annahme, dass sie ganz gerne nach Neuss auswichen, weil sie dann nicht nur die reicheren Niederlande zerstörten, die beide Seiten möglichst unzerstört besitzen wollten.
Dann kamen die Hessen
Diesem regional begrenzten Krieg folgte ein paar Jahrzehnte später der noch gewalttätigere Dreißigjährige. Besonders in dessen langer letzter Phase ging es höchst international zu. Die evangelischen Schweden und die katholischen Franzosen kämpften gegen die Truppen des deutschen Kaisers (der gerne Soldaten aus dem auch von ihm regierten Kroatien einsetzte). Im Westen kämpften weiterhin Spanier und Niederländer mit. Ihr Achtzigjähriger Krieg endete wie der deutsche Dreißigjährige erst 1648 mit dem Westfälischen Frieden. Deutsche Truppen mischten in den irren Kriegszügen des späten 30-jährigen Kriegs nicht mehr in großem Ausmaß eigenständig mit, sondern als Verbündete oder bezahlte Söldner mächtigerer Kriegsparteien. Neuss blieb über zwanzig Jahre lang verschont, wurde aber 1642 von hessischen Truppen erobert. Die kamen nicht aus Hessens heutiger Hauptstadt Wiesbaden (das damals noch gar nicht hessisch war), sondern aus Kassel. Seinerzeit war das konfessionell brisant: Diese Hessen waren keine lutheranischen, sondern wie die Niederländer calvinistische, sozusagen noch reformiertere Protestanten (die den deutschen Lutheranern als mindestens solche Feinde wie die Katholiken erschienen …).
Heutzutage ist’s auch unter Gender-Aspekten interessant: Während der hessische Landgraf Wilhelm nach langem „Hessenkrieg“ und schweren Niederlagen gegen kaiserliche Kroaten nach Ostfriesland geflüchtet war und dort starb, begann seine Frau Amalie Elisabeth als eine der wenigen Frauen mit Regierungsgewalt ihre Truppen kreuz und quer, aber geschickt durchs Kriegsgebiet. Selbst in Zeiten der Männer-machen-Geschichte-Geschichte wurde Amalie Elisabeths „bewunderungswürdige Zähigkeit“ (NDB 1953) gelobt. Da Neuss offenbar noch eine ansehnliche Festung darstellte und der Westfälische Frieden ja erst nach jahrelangen zähen Verhandlungen geschlossen wurde, blieben die Hessen in Neuss (was nicht heißt, dass sie in Hessen selber nicht weiter kämpften …). Und weil mit dem Friedensschluss noch nicht überall Freude und Eierkuchen herrschten, sondern alle Kriegsparteien Geldforderungen hatten – und die, die Machtpositionen wie etwa besetzte Städte innehatten, solche Forderungen auch durchsetzen konnten – verweilten die Hessen noch knapp drei Jahre länger, bis 1651 in Neuss. Mochten auch die katholischen Neusser die „Fürsprache der hehren Jungfrau“ Maria verantwortlich machten, spielten aus hessischer Sicht wohl andere Gründe eine wichtigere Rolle: Hessen-Kassel bekam tatsächlich „als einziges deutsches Territorium … für sein Heer von etwa 20.000 Mann im Westfälischen Frieden eine Kriegsentschädigung von einer halben Million Taler“ (Wikipedia).
Anschließend hatten Hessen und Neuss nie mehr was miteinander zu tun. Dass der deutsche Föderalismus sich mit seinen Vor- und Nachteilen nicht nur an unmittelbaren Landesgrenzen auswirkte, sondern weit darüber hinaus gehen konnte, zeigt die Episode aber.
Übrigens kann man Neuss‘ interessante bis spektakuläre Geschichte derzeit nicht oder zumindest nicht komplett im Museum im Obertor (in dessen Turm pittoresk Kanonenkugeln aus Karls des Kühnen Belagerung eingemauert sind) verfolgen. Das Clemens Sels-Museum, das außer einer Gemäldesammlung auch die Stadtgeschichte zeigt, leidet weiterhin unter einem Wassereinbruch im Mai 2022, der es größerenteils unter Wasser setzte – obwohl wie gesagt der Rhein und andere Flüsse keineswegs mehr nahe der Innenstadt fließen.
Was für eine tolle Geschichtsstunde, vielen Dank!