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St. Georgen, Rathaus

Noch nicht abgeschlossene Medienabspielgeräte-Geschichte (St. Georgen)

Ein richtig idyllischer Schwarzwald-Ort war das durch Krieg und Brände oft zerstörte St. Georgen wahrscheinlich niemals gewesen. Schließlich wurden in Baden-Württemberg jahrhundertelang viele Kriege geführt. Ohne tief in die Geschichte einzusteigen: St. Georgen war einst ein Reichskloster gewesen, von dem noch wenige Restgemäuer zu sehen sind; nachdem die protestantischen Württemberger es säkularisiert, heißt: erobert hatten, gab es öfters kriegerischen Streit mit der größeren, katholisch gebliebenen und kaiserlich-österreichischen Nachbarstadt Villingen. Als dann in der Napoleonszeit die kunterbunten Landkarten bereinigt und fast alle Kleinststaaten der Gegend Württemberg bzw. Baden zugeschlagen wurden, ereilte St. Georgen das kuriose Schicksal, von einer württembergischen zu einer badischen Provinzstadt zu werden …

Deutsches Phonomuseum in St. Georgen

Und sollte es doch etwas Idylle im Zentrum gegeben haben, wich diese, als Ende der 1960er Jahre beschlossen wurde, „ein neues Rathaus, vom Geiste unserer Zeit geprägt“, zu erbauen. So schreibt es die etwa zurselben Zeit erschienene Stadtchronik, die man für 1,50 Euro an der Rathauspforte erwerben kann. Seither steht in der Mitte des rund 13.000 Einwohner zählende Städtchens ein brutalistisches Ungetüm – das in verkleinertem Maßstab ans auch etwa gleichzeitig errichtete Rathaus in der „Neuen Mitte“ der Grimme-Instituts-Stadt Marl (ÜIEB-Archiv) erinnern mag. Seinerzeit waren beides florierende Industriestädte. Anders als nach Marl kommen in den Schwarzwald allerdings Touristen. Die kann St. Georgens Mitte schon irritieren.

St. Georgen, am Markt

Vorteile bieten die Bauten freilich auch: inzwischen viel Platz im Zentrum. Daher konnte St. Georgens wohl größte Attraktion sich weiter vergrößern. Sie hat mit der Industriegeschichte zu tun und lohnt einen Besuch, schon weil sie im Dezember 50 Jahre alt wurde: Das ursprünglich im Rathaus beheimatete, später in ein in der Nähe leerstehendes Kaufhaus übergesiedelte Deutsche Phonomuseum erinnert daran, dass St. Georgen einst ein globales Zentrum der Schallplattenspieler-Produktion war.

In der Tradition der Kuckucksuhr

Schwarzwaldtrachten im Rathaus von St. Georgen
In den Rathausfluren ist übrigens eine Art Heimatmuseum eingerichtet …
Single-Plattenspieler im Phonomuseum
Nun das Phonomuseum. Wer einst auch PE-Plattenspieler benutzt zu haben scheint: Elvis Presley

Allein die Firma Dual bot Ende der 1970er rund 3.000 Arbeitsplätze an neun Standorten in der Region. Der Markenname stammt aus den späten 1920er Jahren, als „das combinierte Elektro-Feder-Werk“ („Im Heim: Elektrisch, im Freien: Federantrieb“) eine recht bahnbrechende Innovation darstellte.


Die elektrische Betriebsart war neu und bequem, beim Federantrieb zum Aufziehen verfügte die „Fabrik für Feinmechanik“ der Gebrüder Steidinger über eher jahrhunderte- als jahrzehntelange Erfahrungen. Schließlich hatte man sich im Schwarzwald schon lange mit dem Bau hölzerner Uhren befasst, die nicht nur verlässlich gehen mussten, sondern gerne auch regelmäßig tönen sollten – nicht allein, aber schon auch in Form von Kuckucksrufen. Weil sich die Gebrüder zerstritten, entstand mit Perpetuum Ebner (PE) noch eine zweite Firma am selben Ort.

All so was zeigt das großzügig gestaltete Museum gut: den im 19. Jahrhundert gemanageten Übergang von der individuellen Heimarbeit zur industriellen Produktion in Fabriken, mobile Phonokoffer für Singles (was im 20. Jahrhundert vor allem ein Begriff für kleine Schallplatten mit nur einem Lied auf jeder Seite war) und umso schwerer transportable Phonoschränke sind zu sehen. Bronzeglänzende Grammophone-Trichter kommen in der großzügig gestalteten Ausstellung ebenso zur Geltung wie ein Tischgrammophon in „original Schwarzwaldhaus“-Optik von 1925.

St. Georgen, Phonomuseum

Totgesagt, aber nicht totzukriegen: Schallplatten

Besonders in Auge und Ohr springt das „Taumelmodell“, das die „absolute Spurtreue“ von Tonarm und Präzisionsfeder der Dual-Plattenspieler beweist. Noch immer. Setzt man es mit 50 Cent in Bewegung, dreht sich tatsächlich ein spielender Plattenspieler erratisch um die eigene Achse und spielt den Schlager „Lieder, die die Liebe schreibt“ ab. Vicky Leandros? Eher wohl Nana Mouskouri. Auf akustischer Augenhöhe mit Elton John, dessen „Candle in the Wind“ zuvor durch das Museum dröhnte? Da lässt sich drüber streiten. Als absolutes Massenmedium spielten Schallplatten eben genau die drauf gepresste Musik, so wie Kuckucksuhren ja auch vorgegebene Rufe ertönen lassen, die bloß den jeweiligen Käufern gefallen müssen.

Kuckucksuhr im Phonomuseum

Den attraktiv anzuschauenden Gag nutzte Dual schon in seinen letzten großen Jahren, bevor die Firma Anfang der 1980er in Konkurs ging, übrigens nach Wiedervereinigung mit dem alten Lokalrivalen PE.

Der taumelnde Plattenspieler allerdings ist ein jüngeres Dual-Gerät, „Made by A. Fehrenbacher GmbH St. Georgen“. Der taumelnde Plattenspieler jedoch ist ein jüngeres Dual-Gerät, „made in St. Georgen“. Also ein positiver Ausgang der immer noch rasanter verlaufenden Industriegeschichte? Profitieren traditionsreiche Hersteller von der überraschenden Medien-Entwicklung, dass es mit dem digitalen Speichermedium Compact Disc/CD – das einst ja das vermeintliche Ende der LP einläutete – seit einigen Jahren sehr viel schneller bergab geht als mit der seinerzeit radikal totgesagten, doch langlebigen analogen Vinyl-Schallplatte? 2021 verkündete etwa erstmals auch die Bertelsmann Music Group, „mehr Umsatz mit Schallplatten als mit CDs gemacht“ zu haben. Auch wenn die für Konzerne lukrative Musik natürlich im speichermedienfreien Streaming, mit dem vier Fünftel des Umsatzes gemacht werden, spielt …

Jein, was den positiven Ausgang angeht: Die Firma Dual besteht und produziert noch auf kleiner Flamme, aber in Bayern. In St. Georgen stellen derzeit zwei Firmen mit rund 20 Mitarbeitern Plattenspieler her, sagt Wolfgang Epting, Geschäftsführender Gesellschafter der WE Audio Systems KG, die sich die PE-Markenrechte gesichert hat. Große Hallen mit „PE“-Schriftzug rund um den Bahnhof von St. Georgen, der mit auf 806 Metern über dem Meeresspiegel zwar zu den höchstgelegenen Bahnhöfen überhaupt zählt (und dennoch ein ganzes Stück unterhalb des Ortszentrums liegt), sind ehemalige Immobilien aus den großen Jahren der Plattenspieler-Industrie, die für andere Zwecke vermietet werden oder für Start-ups zur Verfügung stehen. Wobei es am Bahnhof und selbst im Stadtzentrum weiterhin allerhand weltmarkt-orientierte Maschinenbau-Industrien gibt. Die stellen zwar keine Endverbraucher-Produkte wie Plattenspieler mehr her, stehen aber durchaus in der feinmechanischen Tradition der Uhren- und Plattenspielerherstellung.

St. Georgen, Reste des Klosters
Restgemäuer des Klosters St. Georgen …

„Die Geschichte der Phono-Industrie in und um St.Georgen ist sehr komplex“, sagt Wolfgang Epting. Aber abgeschlossen ist sie nicht, sondern hat dazu beigetragen, das Geschäft mit Medienabspiel-Geräten, die sich seit den 1970er Jahren kontinuierlich und rasant verändern und derzeit vor allem im sogenannte Smartphone konzentrieren, um eine analoge Volte zu bereichern.

Ein guter Grund, das Deutsche Phonomuseum im im Kern nicht uneingeschränkt schönen, aber absolut interessanten Schwarzwaldstädtchen St. Georgen zu besuchen.

St. Georgen im Schwarzwald

Der Text basiert auf einem Besuch in St. Georgen im September 2022. Eine unillustrierte Kurzfassung erschien im Dezember ’22 in „epd medien“.

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