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Türhüter-Burgschloss (Beichlingen)

Wo war einst in Deutschland die Klein- bis Kleinststaaterei – oder positiver formuliert: der Föderalismus – am stärksten ausgeprägt? In Schwaben, in Franken oder in Thüringen? Für all diese Annahmen sprechen Gründe. Für Thüringen spricht, wenn man von Nähe zur Gegenwart ausgeht. Als das Bundesland 2020 sein 100-Jähriges feierte, präsentierte es auf der Internetseite thueringen100.de (und präsentiert weiter) einen „wahren Flickenteppich“ aus „sieben Kleinstaaten“, die „nicht etwa scharf voneinander abgegrenzt, sondern förmlich miteinander verwoben“ waren und sich 1920, nach dem Ende des Feudalismus, zusammengeschlossen hatten. Eine Pointe bestand darin, dass einige Teile des heutigen Bundeslandes – von dem viele Nicht-Thüringer ja auch glauben, es sei zu klein und hätte besser mit Sachsen-Anhalt oder auch Sachsen zusammengehen sollen – noch gar dazu gehörten, sondern zum damaligen Bundesland Preußen. Zum Beispiel die mittendrin gelegene heutige Hauptstadt Erfurt.

Von außen eher Burg: Schloss Beichlingen

Nicht nur acht, sondern mindestens 27 Staatlichkeiten enthielt dasselbe Gebiet ums Jahr 1700 herum:

„Zehn ernestische Herzogtümer, zehn reußische Herrschaften, vier schwarzburgische Grafschaften. Dazu kamen die Stadt Erfurt und das Eichsfeld, Besitz der Erzbischöfe von Mainz, und die Reichsstädte Mühlhausen und Nordhausen“,

zählt die „Geschichte der deutschen Länder“ für die Zeit ums Jahr 1700.

… innen macht die Burg trotz Feldstein-Bauweise einen durchaus schlossigen Eindruck.

Huch, Reuß? Dieses uralte, stets kleine und oft stark zersplitterte Territorium geriet im Dezember 2022 in größere Schlagzeilen, als im Zuge einer medienwirksamen „Reichsbürger-Razzia“ ein älterer „Prinz Reuß“ als „Rädelsführer“ („NZZ“) verhaftet wurde. Ob da tatsächlich mehr Gefahr im Verzug als Öffentlichkeitsarbeit im Spiel war, wird sich sicher noch herausstellen. Jedenfalls hat sich die noch immer große Adelssippe der Reußen vom nun verhafteten Prinzen wohl nicht zum ersten Mal distanziert.

Was erst recht für Thüringen als Hochburg des krassesten Föderalismus spricht: Selbst solche für heutigen Geschmack arg akribischen Aufzählungen wie die oben zitierten enthalten noch gar nicht alle historischen Territorien.

Kölleda-Beichlingen liegt an der Schmücke

Zum Beispiel gibt es im mittleren bis nördlichen Thüringen an den kleinen Höhenzügen mit den hübschen sprechenden (und jeweils auch zutreffenden) Namen Schmücke und Schrecke, wo sich neuerdings eine dörfliche Stadt namens An der Schmücke befindet, Beichlingen. Diese Ortschaft liegt zwar auch an der Schmücke, ist aber Stadtteil der alles andere als großen Stadt Kölleda und enthält ein burgartiges Schloss. In den meisten Thüringen-Reiseführern kommt es ebenso wenig vor wie in Zusammenfassungen der komplexen Landesgeschichte. Dennoch ist es nicht allein sehenswert, sondern auch von aufschlussreichen Geschichten umrankt.

Errichtet wurde die Burg für die Grafen von Beichlingen, die ein halbes Jahrtausend lange eine in der Region wichtige Rolle spielten. 1519 verkauften sie ihre namensgebende und größte Burg an die Grafen von Werthern – gerade noch rechtzeitig, ließe sich sagen. Sechs Jahre später kam es zur vielleicht größten Revolution der deutschen Geschichte – dem in dieser Gegend besonders revolutionären Bauernkrieg. Auf ihrem Vormarsch stürmten die Bauern die Beichlinger Burg, wohl ohne sie stark zu zerstören. Später, nachdem Fürstenheere den Aufstand brachial niedergeschlagen hatten, wurde der Revolutionär und Luther-Gegenspieler Thomas Müntzer (dessen Image heute darunter zu Unrecht leidet, dass er in der DDR-Ära hochgehalten wurde) in der Wasserburg von Heldrungen gefoltert, bevor er hingerichtet wurde. Dieses Heldrungen ist nun eine Ortschaft, die zur Stadt namens An der Schmücke gehört…

Die Grafen von Werthern, die sich wie die meisten Dynastien in mehrere Linien teilten, tauchen nicht nur in überregionalen, sondern auch in Thüringer Darstellungen selten auf.

Dabei stiegen sie nicht nur 1702 zu Reichsgrafen auf, also im komplexen Rahmen des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation souveränen Herrschern auf. Schon seit dem 11. Jahrhundert trugen sie einen klar überregionalen Titel: Sie waren Reichserb-Türhüter bzw., wie man noch klangvoller schrieb, Reichserbkammer-Thürhüter.

Das klingt immer noch imposant. Okay, die Tür-Kräfte im „Berghain“ nennen sich eher wohl „Bouncer“. Die unbeholfene (weil hardcore-föderalistische, also aus den Staatskanzleien der 16 Bundesländer heraus gemachte) deutsche Medienpolitik versucht mit dem Begriff „Gatekeeper“, den übermächtigen plattformkapitalistischen Konzernen, ihren Suchmaschinen oder „sozialen“ Plattformen, also etwa Google mit Youtube und dem Facebook-Konzern mit Instagram, zu begegnen. Wobei immer mitschwingt, dass einst klassische Zeitungen weithin kontrollierten, was in die Öffentlichkeit gelangte und was nicht, und als Türhüter galten. Wer ausdrücklich und hoch symbolisch von „Türhütern“ schrieb: Franz Kafka.

Im alten Heiligen Römischen Reich bezeichnete der klangvolle Begriff eine wohl auch eher symbolische Funktion bei den über die Jahrhunderte immer stärker ritualisierten Königs- und Kaiserwahlen in Frankfurt am Main: für die Geheimheit der Wahl zu sorgen. Die Grafen von Werthern trugen den schönen Titel bis zum Ende des HRR 1806.

Diplomaten in Bayern und in Spanien

Ausgelastet hat das Türhüter-Amt die Grafen nicht, schon weil Könige und Kaiser ja nicht regelmäßig, sondern immer auf Lebenszeit gewählt wurden. Daher waren sie oft auch für größere Fürsten als Diplomaten unterwegs. So spielte ein Georg von Werthern des 17. Jahrhunderts eine Rolle bei den Verhandlungen mitten im 30-jährigen Krieg, die zum Prager Frieden 1635 führten – der epochal wie der Westfälische Frieden geworden wäre, wenn er eingehalten worden wäre und den über viele Jahrhunderte hinweg blutigsten Krieg beendet hätte. Bewirkt hatte dieser Friedensvertrag allerdings im Gegenteil den Kriegseintritt der bis dahin wenig am Krieg beteiligten, damals stärksten Macht Europas, Frankreich, und Ärger der an den Verhandlungen nicht beteiligten Schweden. Sie zerstörten daraufhin Georgs inzwischen eher schlossige Beichlinger Burg ziemlich.

Auf einen Georg des 19. Jahrhunderts beziehungsweise auf das Grabmal, das der sich selbst mitten in der Landschaft südlich der Schmücke errichten ließ, könnte stoßen, wer sich Beichlingen zu Fuß von Westen nähert. Dieser Georg war ebenfalls Diplomat, vor allem preußischer Botschafter in Bayern. Preußischer Botschafter in Bayern – klingt auch nach föderalistischem Firlefanz oder „Saupreiß“-Humor à la Ludwig Thoma. Allerdings trat Georg Graf von Werthern-Beichlingen den Posten im Jahr 1866 an, genau nach dem Krieg im Deutschen Bund, den Preußen (zu dem Beichlingen inzwischen gehörte) und einige verbündete Kleinstaaten gegen Österreich und dessen verbündete Klein- und Mittelstaaten gewonnen hatte. Ziemlich genau seitdem gehörte Österreich nicht mehr zum föderalistischen Deutschland. Das nach ihm und Preußen größte Land, der Kriegs-Mitverlierer Bayern, war seither die Nummer 2. Vermutlich hat Georg von Werthern-Beichlingen einiges dazu beigetragen, dass Bayern trotz allem Teil Deutschlands geblieben ist. Konkret hat er wohl Otto von Bismarcks Idee in die Tat umgesetzt, den mit seinen Parlamenten zerstrittenen, schlossbausüchtigen bayerischen König Ludwig II. durch Geld, das die Preußen dem (als weiteren Kriegsverlierer abgesetzten) König von Hannover abgenommen hatten, zu bestechen und Ludwig so weitere Schlossbauten wie Neuschwanstein zu ermöglichen.

Der Name von Werthern rührt von einer Ortschaft namens Werther ohne „N“ her. Auch dieses Werther liegt, wie Beichlingen, im heutigen Thüringen, zu dessen bekanntesten Städten Weimar und zu dessen bekanntesten historischen Gestalten weiterhin Johann Wolfgang von Goethe gehört. Da poppt die Frage auf, ob der Dichter die in der relativen Nachbarschaft ansässige Reichstürhüter-Sippe kannte und sein bekanntestes Frühwerk „Die Leiden des jungen Werther“ mit Bezug auf sie schrieb?

Goethe war auch im Spiel

Ja, kennen tat er sie. Johanna Luise von Werthern, die Frau des letzten Reichsgrafen und Türhüters, hängt als Gemälde im Frankfurter Goethe-Museum. Und Kenner von Goethes Werken können aus dem „Wilhelm Meister“-Zyklus nur leicht verschlüsselte Erlebnisse Goethes mit der unglücklich verheirateten Gräfin heraus lesen (wie sich in unter Johanna Luises Wikipedia-Artikel verlinkten Mementos der „Eythraer Heimatblätter“ sehr ausführlich nachlesen lässt; die bei Leipzig gelegene Ortschaft Eythra hatte zeitweise auch den Grafen von Werthern gehört . Sie gibt’s nicht mehr, weil sie im Zuge des Braunkohleabbaus der DDR weggebaggert wurde …). Jedenfalls hatte Johanna Luises Gatte, wiederum als Diplomat, nun für Sachsen in Spanien, gewirkt und war mit seiner Familie erst nach 1775 an Schmücke und Schrecke zurückgekehrt. Goethe hingegen hatte seinen „Werther“ schon 1774 in Wetzlar und Frankfurt geschrieben und zog erst anschließend, mit dem „Werther“-Ruhm im Gepäck, nach Weimar um. Insofern besteht zwar ein attraktiver Goethe-Zusammenhang, aber keiner zwischen dem „Werther“ und den Wertherns.

Noch ein Grund mehr, das imposante Burgschloss Beichlingen, das auch ein Hotel und ein rühriges Museum enthält, zu besuchen, wenn man mal an Schmücke und Schrecke vorbeikommt.

Schmücke? Schrecke? Jedenfalls schön …

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