Das ist ja wie gemacht für Festspiele, könnte man im Herbst, Winter oder Frühling 1) beim Blick auf den großen Platz vorm imposanten zweitürmigen Westriegel der Bad Gandersheimer Stiftskirche denken. Im Sommer, nun noch bis noch bis 21. August, laufen die Gandersheimer Domfestspiele. Um einen Dom im engen, kirchlichen Sinne handelt es sich beim bescheiden monumentalen Kirchenbau nicht, eher um ein Münster. Aber ein geschützter Begriff ist „Dom“ ja auch nicht, dafür schön kompakt. Die Gandersheimer Stiftskirche hat sich ihre kompakte Größe und den Grundriss seit aus dem 12. Jahrhundert bewahrt. Was nicht heißt, dass sie dann erst gebaut wurde. Vielmehr ist sie ums Jahr 1168 herum zum mindestens vierten Mal nach Bränden wiederaufgebaut worden und steht seither relativ unverändert dort.
Der freie Platz vorm Dom war allerdings mitnichten für Festspiele gedacht und gemacht worden, sondern wurde ganz im Gegenteil im Lauf vieler Jahrhunderte ziemlich zugebaut – mit Bauwerken wie einer „Paradies-Vorhalle“, die im 19. Jahrhundert wieder abgerissen wurden. Eine Ahnung davon bekommt man auf der Rückseite des Doms. Da schließt sich, längs und leicht versetzt, der barocke Flügel der Reichsabtei an, an den sich dann im rechten Winkel ein älterer Flügel im Stil der Weserrenaissance anschließt, an welchen sich weitere große Gebäudetrakte anschließen, die teilweise burgartige Treppentürmchen und Torbögen enthalten.
Der über Jahrhunderte gewachsene, in jüngeren Jahrhunderten nach vorn hin teilweise abgerissene, aber immer sehr überschaubare Stiftsbezirk war bis 1802 ein eigener Kleinststaat: die Reichsabtei bzw. das weltliche Reichsstift Gandersheim. Nach größeren Anfängen war er allerdings bald so klein, dass hinter den Torbögen (die an wenigen Stellen noch zu sehen sind) schon der nächste Kleinstaat begann.
Das war das Welfen-Herzogtum Brauschweig-Wolfenbüttel, dessen Herrscher in Gandersheim das eine oder andere Burgschloss hinterließen. Die „Braunschweiger Burg“ an der Stadtmauer und am Flüsschen Gande ist heute Amtsgericht. Bei der „Wilhelmsburg“, die einst provokanterweise direkt an der Stiftsfreiheit stand, handelt es sich um den Nachfolgebau eines nach der Reformation aufgehobenen Klosters.
Ob die Konkurrenz zweier Staaten auf wenig Raum für die Einwohner eher Vor- oder eher Nachteile hatte, ist schwer zu sagen. Mal so, mal so, wahrscheinlich. Zu den Vorteilen dürfte gehören, dass die Gandersheimer sich aus der Leibeigenschaft der Abtei freikaufen und Untertanen der Braunschweiger werden konnten, die sie beim Freikauf unterstützt hatten. Mit der „Wilhelmsburg“ verknüpft sich eine Verpasste-Chance-Geschichte: Anno 1571 hatte dort ein Vorgänger der ersten Welfen-Universität seinen Sitz. Kurz nach der Reformation wollten viele Fürsten eine eigene Uni. Doch sollen Stift und Stadt sich ausnahmsweise einig gewesen sein, dass sie solch einen Anziehungspunkt für selbstbewusste, laute junge Leute in ihren Mauern lieber nicht wollten, worauf sich dann Helmstedt über 200 Jahre lang einer (fürs Wachstum einer Stadt und die Geschäfte der Einwohner eben doch förderlichen) Universität erfreuen konnte.
Aus gegenwärtiger Sicht stellt das wiederum keine ganz große verpasste Chance mehr dar. Schließlich wurde die Helmstedter Uni 1810 von den Franzosen zugunsten der jüngeren, noch immer bestehenden Göttinger Universität dicht gemacht …
Jedenfalls zeigt die bescheidene Monumentalität der Kirchen und kleinen Burgschlösser, wie alt der Ortskern ist. Er stammt aus der Epoche der Romanik, in der die Menschen groß und hoch nicht zu bauen beherrschten. Mit den Bauten wurde bereits im Jahr 852 unter dem sächsischen Markgraf Liudolf begonnen, wenige Jahrzehnte nach der Eroberung und gewaltsamen Missionierung Sachsens durch die Franken und Kaiser Karl den Großen. Dieser Liudolf konnte noch nicht ahnen, dass sein Enkel selber König und sein Urenkel Kaiser werden würde.
Der in Bad Gandersheimer Broschüren (wie der hier runterladbaren) gern verwendete Spruch „Deutschland kommt aus Gandersheim“ passt insofern, weil das Ostfränkische, dann zusehends Deutsche Reich besonders sich dadurch entwickelte, dass sein Machtzentrum sich aus dem Westen, von Karls des Großen Liebslingsstadt Aachen, und dem Süden, wo am Main und an der Lahn spätere Könige ihre Hauptsitze hatten, in den Osten, das damalige Sachsen bewegte. Wenn die Machtzentren mal hier, mal dort liegen und unterschiedliche Regionen was davon haben, kann das ein Land zusammenwachsen lassen.
Wer jedenfalls aus dem alten Gandersheim kam: „die erste deutsche Dichterin“ oder, wie sich präziser sagen ließe: „die erste bedeutende lateinische Autorin seit der Antike und die erste Dramatikerin der christlichen Welt überhaupt“. Hrosvit/ Roswitha von Gandersheim wird im Ort heutzutage sehr hochgehalten, etwa durch den gleichnamigen Literaturpreis, der jährlich an deutschsprachige Dichterinnen vergeben wird (zu denen die auf Latein dichtende Roswitha im 10. Jahrhundert also nicht zählte).
Im 21. Jahrhundert hätte man für ein Roswitha-Denkmal wahrscheinlich ein anderes Motiv ausgewählt als ausgerechnet, wie die erste Dichterin vor einem Mann niederkniet. Andererseits könnte auffallen, dass die große Dichterin dem Monarchen selbst auf Knien fast auf Augenhöhe begegnet. Außerdem bezieht sich das aus den 1970er Jahren stammende Denkmal auf die älteste bekannte, vom ebenfalls großen Renaissance-Künstler Albrecht Dürer gestaltete Roswitha-Abbildung. Sein Holzschnitt zeigt, wie die Dichterin Kaiser Otto I. ihre Werke überreicht. Was mitnichten heißt, dass Dürer Roswitha je gesehen hätte. Die Gandersheimer Dichterin hatte ja mehr als ein halbes Jahrtausend vor ihm gelebt. Sogar im Vergleich mit Nürnberg ist Bad Gandersheim eine alte Stadt.
Was die Dichterin im zehnten Jahrhundert nach Gandersheim gezogen haben dürfte: das erwähnte weltliche Damenstift. Das heißt, es war erstens kein Kloster, was den adeligen Mitgliedern gestattete, sich an weltlichem Besitz zu erfreuen und sogar, wieder austreten zu können. Zweitens waren diese Mitglieder ausschließlich Frauen. Solche Damenstifte waren jahrhundertelang die einzige Staatsform, in der grundsätzlich und ausschließlich Frauen regierten. Nur sie repräsentierten und verewigten sich hier so, wie es die sonst fast immer männlichen Herrscher im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation auch überall taten: in Bauten, Brunnen und ganz besonders in Grabmalen. Gut sehen lässt sich das an Renaissance- und barocken Prunksärgen im Dom.
Um die in fast tausend Jahren bis zur Säkularisierung 1802 herrschenden 48 bis 53 Fürstäbtissinnen ranken sich allerhand Geschichten. Völlig klar bestimmen lässt sich die Zahl schon deshalb nicht, weil es zeitweise Gegenäbtissinnen gab (so wie Gegenpäpste im Kirchenstaat in Rom). Der Hofstaat des Gandersheimer Kleinstaats enthielt natürlich viele Männer – etwa einen Hofbildhauer mit dem einprägsamen Namen Johann Kaspar Käse und einen Hofmusiker namens Bach, der zur großen verzweigten Familie Johann Sebastians gehörte (und im kleinen Damenstift außer als Hofmusikus zugleich wohl auch als Mundschenk diente). Überliefert ist außerdem, dass für Fürstäbtissin Henriette Christine im frühen 18. Jahrhundert ihr Oberhofmeister von Braun auch als Geliebter wirkte. Zwar musste diese Fürstäbtissin nach Geburt eines Sohnes auf ihr Amt verzichten, doch das scheint harmloser zugegangen zu sein als vergleichbare Fälle zurselben Zeit anderswo.
Kurzum: Bad Gandersheim erlebte in seiner langen Geschichte sichtlich so einige Höhepunkte, den größten vielleicht kurz vor der vorvorigen Jahrtausendwende, also vorm Jahr 1000, als das Deutsche Reich mit Kaiserin Theophanu eine Frau regierte (weil ihr Mann gestorben und ihr Sohn noch zu jung dafür war), von der sich heute doppelt gut erzählen lässt, weil sie außerdem als geborene byzantinische Griechin für kulturelle Vielfalt steht und viele Einflüsse nach Mitteleuropa brachte.
Wie das so ist mit Höhepunkten: Hinterher geht’s bergab. Wie viele Städte mit „Bad“ im Namen muss Bad Gandersheim seit einigen Jahrzehnten um Besucher kämpfen. Dass es heute eine rundum blühende Stadt ist, lässt sich nicht sagen – obwohl es gerade jetzt eigentlich kräftig blühen sollte. Allerdings wurde die Laga, die niedersächische Landesgartenschau 2022 – eine der Infrastrukturmaßnahmen, die oft tatsächlich mehrere Jahre bis Jahrzehnte positiv nachwirken – Ende 2021 wegen Corona von diesem Jahr ins nächste, 2023, verlegt. Dabei ist rund um das Flüsschen Gande herum, das trotz seiner Bescheidenheit einige Hochwasser verursachte (wie sich nach der Flutkatastrophe 2021 besser vorstellen lässt), bereits allerhand Grün hübsch angerichtet worden. Vermutlich dieser Verschiebung wegen ließen sich im März, als ich in Bad Gandersheim war, die Museen, die unter dem pompösen (den Internet-Aspekt des Begriffs „Portal“ nicht mitmeinenden) Namen „Portal zur Geschichte“ auftreten, kaum bis gar nicht besichtigen.
Wie auch immer, Freilicht-Museum genug, um dort mit Erkenntnisgewinn einen Tag zu verbringen, ist Bad Gandersheim auf jeden Fall – und deckt zahlreiche Epochen ab. Wenn man auf einer stillgelegten Bahnstrecke oberhalb des grünen, von interessant zeittypischer, auch schon für Vergangenheit stehender 1970er-Jahre-Architektur geprägten Kurparks in den Stadtteil Brunhausen geht, wo Fürstäbtissin Elisabeth Ernestine den im Kern allerältersten Kirchen-Kloster-Bau des Orts im 18. Jahrhundert zum barocken, aber bemerkenswert bescheidenen Sommerschlösschen umbauen ließ, stößt man auch auf Spuren bestürzender Nazi-Vergangenheit. Deutschland kommt sozusagen mit allen Facetten seiner Geschichte, auch, aus Bad Gandersheim.
(Und die eben erwähnte stillgelegte Bahnstrecke bedeutet nicht, dass Bad Gandersheim sich nicht per Bahn erreichen ließe. Im Gegenteil, der Bahn-Haltpunkt liegt sogar sehr nahe am Ortskern).
1) Ich war Ende März in Bad Gandersheim. Als ich die meisten hier veröffentlichten Fotos machte, liefen die Festspiele also nicht. Am Rande: Ob es kulturell das Gelbe ist, ausschließlich ältere Erfolgsfilme wie „Der Name der Rose“, „Die Ritter der Kokosnuss“, „Der kleine Horrorladen“ und „Frühstück bei Tiffany“ nachzuspielen, wie es 2022 geschieht, könnte man natürlich fragen. Andererseits, nach den Pandemiejahren müssen solche aufwändigen Veranstaltungen erst recht darauf achten, verlässlich Publikum anzuziehen. Zumal, wenn es in kleinere Orte auch von anderswo anreisen muss …