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Relative Größe (Goslar)

Die Frage, ob man den Preußenkönig Friedrich II. „der Große“ nennen soll oder nicht (wie in der DDR) , konnte noch in den letzten Jahren der alten BRD gewisse Aufregung verursachen. Inzwischen ist das längst gleichgültig, im laufenden Friedrichs-Jubiläum kann es jeder nach seiner Façon formulieren. Zumindest war dieser Friedrich der letzte deutsche Monarch, für den der Beiname sich über längere Zeit durchgesetzt hatte.

Einer, bei dem er sich nicht durchsetzte, ist der rund hundert Jahre später amtierende und sogar zum Kaiser beförderte Preußenkönig Wilhelm.  Andererseits, wenn dem nun doch irgendwo Größe zugeschrieben wird, ist es auch egal und muss nicht mehr weggemacht werden. Zum Beispiel in Goslar (Niedersachsen). Dort steht „Wilhelm der Große“ als schön grün patiniertes Reiterstandbild vor der Kaiserpfalz, neben einem anderen Friedrich (dem viel früher amtierenden, unter dem viel eingängigeren Zunamen Barbarossa noch immer bekannten Kaiser), und ist durchaus beliebt: bei Hochzeitspaaren, die im Standesamt im zweiten Stock der Kaiserpfalz geheiratet haben und sich hinterher filmen lassen, und bei der punkig angehauchten Jugend Goslars. Die zieht zum Feierabend gern zur Pfalz hinauf, um zu Füßen Wilhelms ihr Bier zu genießen (und es ganz in der Nähe auszuscheiden).

Von Kaisern benutzt wurde der Bau bloß im ersten Viertel des zweiten Jahrtausends, unter anderem von Barbarossa. Dann verarmte die wegen ihres Silberbergbaus lange Zeit sehr reiche Stadt Goslar über ebenfalls lange Zeit. Zugemauerte Fenster an der Rückseite der Pfalz zeugen davon, dass das Bauwerk, als Monarchen es längst nicht mehr besuchten, als Speicher und Gefängnis verwendet wurde.

Der Dom ziemlich daneben, der ansonsten heute sehr alt und sicher sehenswert wäre, verfiel sogar derart, dass er anno 1819 abgerissen wurde und Heinrich Heine, der kurz darauf vorbeiwanderte, in seiner „Harzreise“ klagte:

„Wir leben in einer bedeutungschweren Zeit: tausendjährige Dome werden abgebrochen, und Kaiserstühle in die Rumpelkammer geworfen“
(heine-portal.de).

Noch ein paar Jahrzehnte später wurde Goslar preußisch und jener Wilhelm bald darauf zum Kaiser. Die Preußen, denen man ja so einiges vorwerfen kann, aber kaum Mangel an Tatkraft, nahmen sich sozusagen Heine zu Herzen und restaurierten die Ex-Pfalz-Rumpelkammer als Nationaldenkmal in ihrem Stil.

Wenn man heute die Kaiserpfalz besucht, verläuft die Führung, die man dort buchen muss, ausschließlich durch den Kaisersaal der Preußenzeit. Sie unterhält dennoch, zumal man unterschiedliche Narrative geboten bekommt (ich war zweimal in den letzten Jahren dort): sei es einen äußerst ausführlichen Schnelldurchlauf durch die deutsche Geschichte bis zur Kaiserkrönung 1871, mit der dieser Saal vollgemalt ist, sei es die Geschichte des Künstlers, der es tat. Dieser Hermann Wislicenus begann anno 1879 auf rund 600 qm Wandfläche 68 Gemälde aufzutragen, die nicht, was Inhalt und Machart angeht, aber vielleicht als komplexes System voller allegorischer Verweise und Sichtachsen auch modern sind. Wie beispielsweise der Barbarossa auf den weißbärtigen Wilhelm blickt und auch das Dornröschen noch in die Geschichte eingepflegt ist, erläutern Goslars Museumsführer gern.

Kein Wunder, dass der Künstler dermaßen lange daran malte, dass lange bevor er fertig wurde, der alte Wilhelm (der ja sehr alt wurde, 90 Jahre) gestorben war. Zu dem Zeitpunkt, 1897, war längst Wilhelm II. – des I. Enkel, an dem allenfalls das mit ihm verknüpfte Unheil groß ist – Kaiser. Und soll sich geärgert haben, dass er selber im vollallegorischen Saal bloß am Rande als Junge (der er als Elfjähriger bei der Kaiserkrönung tatsächlich war) zu sehen ist. Daher sei er nicht zur Eröffnung angereist und habe dem Maler statt des erhofften tollen Ordens bloß einen gewöhnlicheren Orden zukommen lassen, worüber sich der auch nicht mehr junge und sichtlich äußerst staatstragende Künstler arg geärgert habe.

Banale Geschichte – aber Goslars Pfalzführer wissen sie empathisch zu erzählen. Was in den 1980er Jahren noch bestenfalls gleichgültig gewesen oder als deutschtümelndes Gemälde peinlich gefunden worden wäre, taugt eine historische Zäsur später als Aufhänger für eine durch Tragik intereressierende Lebensgeschichte eines Künstlers, der an seinem Lebenswerk leider zu lange arbeitete, um damit zeitweise auf der Höhe seiner (vielleicht auch: überhaupt einer) Zeit gewesen zu sein. „Der letzte deutsche Monumentalmaler“, wie eine einheimische Anzeigenzeitschrift Wislicenus nennt, habe demselben Artikel zufolge immerhin sozusagen die Genugtuung bekommen, dass in der Nazizeit auf einem Reichsbauerntag (damals war Goslar bizarrerweise „Reichsbauernstadt“) seine Gemälde mit Tüchern verhängt worden seien. Heute stellt er nicht das einzige Beispiel einer durch Tragik aufgepeppten kaiserzeitlichen Künstlervita dar; die bei Detmold präsentierte des Hermannsdenkmals-Baumeisters Ernst von Bandel ist durchaus vergleichbar.

Rein künstlerisch gewinnen Wislicenus‘ Gemälde vielleicht, wenn sie noch ein paar Jahrhunderte älter werden. Einstweilen machen die in Goslar auch reichlich vorhandenen moderneren Werke (etwa Henry Moores „Goslar Warrior“ im Pfalz-Garten) mehr her. An schon heute älterem Stoff herrscht in Goslars Pfalz natürlich ebenfalls kein Mangel. Interessant etwa das Fußbodenheizungssystem, mit dem der Saal zu Zeiten der ersten Kaiser, als er noch keine Fenster hatte,  beheizt wurde (was allerdings die Römer 1000 Jahre früher schon besser beherrscht hatten). Oder der Vogel Greif, der lange recht unbeachtet einen Giebel zierte, weil alle dachten, er sei halt auch so ein wilhelminisches Gimmick, bis 1988 entdeckt wurde, dass er schon aus dem 13. Jahrhundert stammt.

Goslar selbst ist heute eine schöne Stadt, eben weil sie bis in Heinrich Heines Zeiten schon so verarmt, also lange nicht modernisiert worden war, dass sie heute einen authentisch alten Eindruck macht und daher selbst Teil des Goslarer Weltkulturerbes ist.

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