Sehr viel offiziell formulierte Staatsräson hat die Bundesrepublik Deutschland nicht, und das ist vielleicht auch gut so. Was aber sicher zu einer solchen gehört und insbesondere betont wurde, als Bundeskanzlerin Merkel sich auch um internationale Ausstrahlung ihrer vermeintlich erfolgreichen Politik bemühte: der Westfälische Frieden. Ganz besonders Merkels (in anderer Funktion ja immer noch aktiver) Außenminister Steinmeier hatte den Friedensschluss aus dem Jahr 1648 als „Denkmodell für den Mittleren Osten“ vorgeschlagen (auswaertiges-amt.de). Auch deshalb hatte der Deutsche Historikertag dann 2018 eine geradezu offizielle „Neubewertung“ des Westfälischen Friedens vorgenommen.
Das war und wäre weiterhin keine fernliegende Idee. Schließlich war auch der 30jährige Krieg, ähnlich wie die Kriege in und um den Irak und Syrien, unfassbar brutal. Auch er war aus einer Menge von oft durch Streitigkeiten zwischen unterschiedlichen Konfessionen derselben Religion, damals des Christentums, entstandenen Konflikten ausgelöst worden, und durchs Eingreifen von Weltmächten erst recht eskaliert. Nach jahrelangen Verhandlungen, während denen Waffenstillstände manchmal zwar vereinbart, nicht aber eingehalten wurden, gelang es 1648, durch komplizierte, teils kuriose Regelungen zumindest solche aus unterschiedlichen Bibel-Interpretationen abgeleiteten Kriegsanlässe für Mitteleuropa nahezu abzuschaffen. Kriege wurden nach 1648 weiter geführt, bald auch wieder im damaligen Deutschland, aber aus aus heutiger Sicht rationaleren Gründen, also wegen Macht, Imperialismus, Reichtum …
Kuriose Abwechslung
Kurios am Westfälischen Frieden könnte schon wirken, dass eine der beiden Friedens-Städte, Osnabrück, gar nicht in Westfalen liegt, sondern in Niedersachsen. Das hängt direkt mit einer der komplizierten Detailregelungen zusammen. Während die andere Friedens-Stadt Münster nach dem 30jährigen Krieg blieb, was sie davor gewesen war: die Hauptstadt eines Kleinstaats im Heiligen Römischen Reich unter der politischen Landesherrschaft eines katholischen Fürstbischofs, verhielt sich das in und rund um Osnabrück komplexer. Zwar war das Osnabrücker Land nominell ebenfalls ein (noch kleineres) katholisches Fürstbistum gewesen. Doch die recht große Stadt Osnabrück war schon im 16. Jahrhundert weithin evangelisch und ziemlich selbstständig geworden und wollte das ebenso bleiben wie der hardcore-katholische Fürstbischof Landesherr. Auch der alte und bekannte Dom mitten in Osnabrück war damals (und ist heute) noch katholisch. Solch eine Bikonfessionalität war eines der Probleme, über die jahrelang verhandelt wurde. Zur Lösung wurde für Osnabrück die alternative Sukzession bestimmt.
Das hieß, dass katholische und evangelische Herrscher sich abwechseln sollten, und zwar jeweils auf Lebenszeit (schon weil regelmäßige Regierungswechsel zum Beispiel nach Wahlen damals noch nicht zur Vorstellungswelt gehörten). Auf den zurückgekehrten katholischen Fürstbischof Franz Wilhelm von Wartenberg sollte nach dessen Tod ein evangelischer aus der Herzogsfamilie von Braunschweig und Lüneburg folgen (wobei zu den weiteren Kuriosa zählte, dass es sich da um die Herzöge und künftigen Kurfürsten von Hannover handelte, die weder Braunschweig noch, zu diesem Zeitpunkt, Lüneburg beherrschten, sondern bloß diesen damals klangvollen Titel trugen), und auf den wieder ein katholischer. Für Frieden wichtiger war, dass die Untertanen ihre Rechte behielten und diese nicht mehr von jedem neuen Herrscher umgemodelt werden konnten.
Eine gewisse Toleranz zumindest in religösen Fragen – die es in weiten Teilen der Welt ja weiterhin nicht gibt (oder eher: im 21. Jahrhundert wieder deutlich weniger gibt als zwischenzeitlich, z.B. im Nahen Osten) – gehörte zu den damals für Europa epochalen Ergebnissen des Westfälischen Friedens. Insbesondere in Osnabrück spielte es wohl keine ungeheuer große Rolle mehr, wer genau nach 1648 herrschte. Das hängt zusammen mit weiteren Kuriosa, wie sie in den jeweiligen Macht-Eliten der frühen Neuzeit üblich waren. Katholischen Bischöfe entstammten meist reichen Adelssippen und sammelten klangvolle Titel. Der, wenn man so will, heute bekannteste Fürstbischof von Osnabrück war Clemens August. Wie viele regierende Zeitgenossen war er vom Bauwurm besessen. Derzeit erntet er als Bauherr der Schlösser in Brühl bei Köln (überallistesbesser.de-Beitrag darüber) sozusagen Weltkulturerbe-Ruhm. Bloß baute dieser Wittelsbacher diese Schlösser als Kurfürst von Köln (was wiederum nicht heißt, dass Köln zu seinem Herrschaftsgebiet gehörte …). Außerdem war er noch Fürstbischof von fünf bis sechs weiteren Kleinstaaten und ließ auch in diesen Funktionen Lust- und Jagdschlösser in so großer Zahl erbauen, dass er sie kaum sinnvoll nutzen konnte. Selbst das Osnabrück am relativ nächste gelegene, das Schloss Clemenswerth, hatte Clemens August nicht als Fürstbischof von Osnabrück, sondern als der von Münster errichten lassen …
Zwar Nordamerika verloren, aber Osnabrück gewonnen
Die Hannoveraner Welfen wiederum waren raffinierte dynastische Machtpolitiker. Franz Wilhelms Nachfolger Ernst August ließ sich das Osnabrücker Schloss bauen, das immer noch hübsch aussieht und als Universitätssitz sinnvoll genutzt wird, zog allerdings nach Hannover weiter, als er dort zum Herzog und dann Kurfürst avancierte. Nach Clemens Augusts Tod im Februar 1761 verfiel der damalige Hannoveraner Kurfürst auf die Idee, seinen zweiten Sohn zum Fürstbischof zu bestimmen … der aber erst noch geboren werden musste, was dann erst im August 1763 geschah. Die rationale Idee dahinter dürfte gewesen sein, dass bei evangelischen Fürstbischöfen keinerlei religiöser Schnickschnack dazugehörte und den kuriosen Lebenszeit-Regeln der alternativen Sukzession gemäß die Macht dann umso länger bei den Welfen bleiben würde. Obwohl dieser Friedrich August nur 63 Jahre alt wurde, ging der Plan auf. Schon in seinem circa 38. Regierungsjahr fanden nämlich die Säkularisierung und Landkarten-Bereinigungen der Napoleonszeit statt. Und Friedrich August verkaufte sein Fürstenbischofstümchen an seinen Vater, den Kurfürsten von Hannover. Deshalb ist Osnabrück auch heute noch niedersächsisch.
In der Praxis dürfte beiden, Vater und Sohn, die Chose herzlich egal gewesen sein. Sie lebten als Engländer in London: der Sohn als Duke of York and Albany, dessen englischsprachiger Wikipedia-Eintrag länger als sein deutschsprachiger ist, der Vater als König Georg III. von Großbritannien, der zwar das südliche Nordamerika verloren, aber immerhin Osnabrück gewonnen hatte. Vor allem die Generation seiner vielen Söhne war im England ziemlich unbeliebt, aber auch wichtig. Sowohl Friedrich Augusts ältester Bruder Georg als auch sein nächstjüngerer Bruder Wilhelm wurden ebenfalls noch Könige der Weltmacht Großbritanniens und Hannovers, sein dann nächstjüngerer Bruder Ernst August nach Wilhelms Tod immerhin noch König von Hannover. Das heißt, Friedrich August hätte diese Titel auch erhalten, hätte er bloß lange genug gelebt.
Dafür, dass Osnabrück unabhängig von in der Ferne residierenden Autoritäten ganz gut regiert wurde, steht auf dem (Park-)Platz neben dem schon erwähnten alten Dom auf einem kleinen Sockel das Denkmal für Justus Möser (1720–1794). Mit Titeln wie dem eines Geheimen Justizrats führte der im 18. Jahrhundert lange die meisten Regierungssgeschäfte. In den letzten Jahren und Jahrzehnten bemüht sich die Osnabrücker Justus-Möser-Gesellschaft durchaus erfolgreich, ihn als „bedeutende Persönlichkeit der deutschen Aufklärung“ und als weitblickenden „Historiker, Jurist, Publizist und auch Politiker“, dessen „Rat … gefragt in Berlin, Wien oder London“ war und vor allem ins späte HRR wirkte, wieder bekannter zu machen.
Nicht so weit entfernt von Möser, weiter vorm Dom als daneben, steht auf einem höheren Sockel der bekanntere Löwenpudel. Damit soll es anderes auf sich haben (was dann viel tiefer in die Vergangenheit zu Heinrich dem Löwen führte) … aber vielleicht verkörpert so ein Löwenpudel auch einfach ganz gut die Mischung aus großer weiter Welt und föderalistischem und, ob nun aus Überzeugung oder eher notgedrungen, tolerantem Kleinstaat.