Wer in Celle vom Bahnhof her kommt, in dem es trotz einiger haltender ICEs übrigens keine Gepäckschließfächer gibt, stößt nicht unmittelbar auf die Schokoladenseite der niedersächsischen Stadt, auf dem Weg dorthin aber auf ein Wappen-geschmücktes Zeugnis ihrer wie überall gern beworbenen Vergangenheit als Residenzstadt. Beziehungsweise als Ex-Residenzstadt, denn das „Zucht-, Werk- und Tollhaus“ im „französischen Schlossbaustil“ erbaute der herzogliche Oberbaumeister Johann Caspar Borchmann im frühen 18. Jahrhundert ausdrücklich als Ersatz dafür, dass die Herzöge von Braunschweig-Lüneburg ihren Hauptsitz gerade ins nahe Hannover verlegt hatten.
Die Anekdote „Man erzählt … , dass Celle die Wahl zwischen einer Universität und einem Zuchthaus gehabt habe und die Bürger zum Schutze ihrer Töchter vor den Studenten sich für die letztere Institution entschieden hätten“, erzählt die heute im Zucht-, Werk- und Tollhaus ansässige Institution launig auf ihrer Webseite. Wenn in Celle die Sonne scheint, erkennt man schon von weitem am über dem weißen Gemäuer glitzernden Stacheldraht, dass es sich noch immer um eine Justizvollzugsanstalt handelt. Sie gilt daher „als das älteste Gefängnis in Deutschland, das noch in Funktion ist“ (Wikipedia). In den 1970er und 1980er Jahren spielte es nochmals eine historische Rolle: In seine Mauern wurde das „Celler Loch“ gesprengt.
Im an der Schokoladen-Vorderfront der JVA gelegenen Park gelangt man schnell zum Celler Schloss, das in einem noch schöneren Park auf einem Hügel liegt und weiteren Frühester-/ Ältester-Fame bereit hält: Das Schlosstheater sei „Europas ältestes regelmäßig bespieltes Barocktheater mit festem Ensemble“, die Schlosskapelle der „einzige fast vollständig erhaltene Kirchenraum Deutschlands aus frühprotestantischer Zeit“, heißt es (wobei derjenige im Schloss in Neuburg an der Donau durchaus älter, wegen Konversion der dortigen Fürsten allerdings nicht regelmäßig protestantisch bespielt worden ist).
Hinterm Schloss bildet die Fachwerk-Innenstadt erst recht eine Schokoladenseite. Auch wenn irgendwie alle Fachwerkstädte den Eindruck erwecken zu wollen scheinen, Fachwerkstädte seien selten, ist auch diese bei Sonnenschein schön anzusehen. Tatsächlich bemerkenswert ist, dass es Stadtbrände und Kriegszerstörungen, die in vielen Stadtgeschichten häufig vorkamen und vor allem holzbasierte Fachwerkbauten zerstört haben, in Celle kaum gab. Dass die Stadt im Weltkrieg nicht bombardiert wurde, mag damit zusammenhängen, dass die vor allem in Celle lange ansässigen niedersächsischen Welfen vor 200 Jahren den englischen Königsthron erklommen hatten; eine der vielen Ausstellungen darüber ist zurzeit im Schloss zu sehen.
Wer dann noch in die Stadtkirche St. Marien schaut, kann an eindrucks-vollen lebensgroßen Grabmal-Epitaphen ziemlich vieler Celler Fürsten ungewöhnlich gut Unterschiede vergangener Epochen ablesen. Im Schloss hatten vom 14. Jahrhundert bis 1705 Fürsten von Braunschweig-Lüneburg residiert (so wie in Wolfenbüttel auch: diese waren aus Braunschweig vertrieben worden, jene aus Lüneburg, denselben Haupttitel führten verwirrenderweise beide …). Auf der einen Seite knien Renaissance-Fürsten wie Ernst, der Bekenner, der die Reformation in Celle eingeführt hatte, betend, da sie der Nachwelt vor allem als fromm erscheinen wollten oder sollten. Gegenüber stolzieren spätere Fürsten wie Georg Wilhelm wohlgenährt-doppelkinnig in Stulpenstiefeln voran, weil sie oder die Barock-Epoche Wert darauf legten, absolute Macht zu besitzen oder zumindest zu demonstrieren.
Jener Georg Wilhelm war, erfährt man in der Schloss-Ausstellung, als Heerführer in ganz anderen Ecken unterwegs gewesen, z.B. 1675 bei Trier in einer Schlacht gegen die Eroberungsarmeen des französischen Sonnenkönigs. Er war aber auch der letzte Celler Fürst. Seine einzige Tochter hatte er an deren Cousin nach Hannover verheiratet, der daher dann auch das Celler Territorium erbte. Sophie Dorotheas tragische Lebensgeschichte wird heutzutage in Celle umso lieber als eines von mehreren „bewegenden Frauenschicksalen“ erzählt („Ihren Enkel Friedrich den Großen lernte sie nie kennen … „), weil es sogar auf englisch verfilmt worden ist: Joan Greenwood hatte anno 1948 Sophie Dorothea gespielt, Stewart Granger ihren dann ermordeten Liebhaber. In England war „Saraband for Dead Lovers“ seinerzeit, auch als Roman, populär, da Sophie Dorotheas Gatte eben jener Welfe war, der (lange nachdem er sie lebenslang in die Lüneburger Heide verbannt hatte) zum englischen König George I. aufstieg und Hannover verließ, um in London zu residieren.
Heute liegen Sophie Dorotheas Überreste mit denen vieler anderer Celler Fürsten, aber ohne die jenes Georgs, aber in der Gruft unter der Stadtkirche, die (nur mittwochs und donnerstags) besichtigt werden kann und von englischsprachigen Touristen tatsächlich nachgefragt wird.
Insofern gibt es in Celle durchaus eine Menge zu sehen. Die aktuelle Broschüre „Residenzstadt Celle/ Gastlich/ Ex(Celle)nt“ macht dann noch auf ein „uriges Restaurant“ mit dem Hinweis aufmerksam, dass „Hermann Löns und andere Prominenz wie Helmut Kohl, Uwe Seeler, Sky du Mont, Roy Black, Horst Janssen, Willy Birgel und Richard von Weizsäcker … hier Stammgast“ gewesen seien. Aktuell online wurde dann noch Gerhard Schröder nachgetragen. Ein Schelm, wer sich da nicht einreihen möchte.
Auf diesen Fotos scheint aber wirklich die Sonne! 😉