Im heutigen Bundesland Sachsen ist der Glamour klar verteilt: Dresden strahlt nach dem Nachkriegs-Wiederaufbau und erst recht der Nachwende-Restaurierung so sehr, dass man manchmal zumindest blinzeln muss. Es war eben schon immer die Hauptstadt.
Leipzig glänzt auch ganz gut, zum Teil sicher deshalb, weil die alte Kaufmannsstadt niemals Hauptstadt war und Fürsten gefällig sein musste, und auf ihre Weise Reichtum ansammeln konnte. Andere, entferntere sächsische Städte strahlen erst mal erheblich weniger.
Zum Beispiel, trotz des Namens, Reichenbach. In der Stadt im Vogtland wird ausgiebig an die Textilindustrie erinnert, die es zu DDR-Zeiten dort noch gab, inzwischen ja aber praktisch gar nicht mehr in Deutschland.
Die Sehenswürdigkeit, die im Ortszentrum ins Auge springt, ist eine kursächsische Postsäule, wie sie in vielen sächsischen und einst sächsischen Ortschaften wiederhergestellt wurde. So etwas kann natürlich zum Nachdenken anregen, wie enorm sich Mobilität und Kommunikation verändert haben. Aber spektakulär ist es nicht. Doch das Bild auf der Hauswand dahinter ist interessant: Reichenbach ist Geburtstort einer der interessantesten Gestalten und wichtigsten Frauen der deutschen Kulturgeschichte.
Das leider ziemlich vergessene, aber epochale Leben und Wirken der „Neuberin“ zeichnet das liebevoll eingerichtete Museum in ihrem Geburtshaus nach.
Das Haus ist das, in dem anno 1697 ihr Vater als Stadtrichter im Namen der Reichenbacher Standesherren – der dem zwar sächsischen Kurfürsten unter-, den lokalen Untertanen aber übergeordneten Adeligen – gewirkt und gewohnt hat. Seiner Tochter gegenüber soll dieser Daniel Weißenborn gewalttätig gewesen sein. Sie floh jedenfalls zweimal mit einem Geliebten vor ihm. Das erste Mal hatte es nicht geklappt, und der Vater ließ sie sieben Monate lang in Zwickau (wo die Familie dann lebte) ins Gefängnis stecken. Das zweite Mal hat’s geklappt, und durch Heirat mit dem mitgeflohenen Mann wurde aus Friederike Caroline Weißenborn Friederike Caroline Neuber bzw., wie ihrerzeit gegendert wurde: die Neuberin.
Die beiden schlossen sich zunächst einer umherziehenden Schauspielertruppe an und gründeten dann selber eine. Schon damals, als Gleichberechtigung denkbar weit entfernt war, galt nicht ihr Gatte, sondern die Neuberin als Prinzipalin, also Chefin dieser Truppe. Sie wurde zur wichtigsten Pionierin des Theaters, das in der damaligen Kommunikations-/ Mobilitäts-Umwelt des 18. Jahrhunderts viele Menschen mit vollkommen neuen Eindrücken versorgte und daher ebenso beliebt wie umstritten war. Die Neuberin bemühte sich erfolgreich darum, den Ruf dieser Kunstform zu verbessern. Darum, dass Schauspielertruppen nicht immerzu umherziehen mussten, sondern sich in stehenden Theatern weiterentwickeln konnten, bemühte sie sich auch, allerdings mit zunächst nur kurzfristigen Erfolg.
Ihre Lebens- und Wirkungsgeschichte zeigt exemplarisch wie das Heilige Römische Reich Deutscher Nation funktionierte und welche Vor- und Nachteile es hatte: Fast jede Stadt lag wieder in einem anderen Staat, und überall benötigte die Truppe ein „Privileg“, das heißt eine befristete Auftrittserlaubnis der regierenden Autoritäten. Fast überall bekam die Neuberin so eine. Sobald allerdings die Fürsten, die ihrer Truppe und dem Theater gewogen waren, starben und die nachfolgende Generation (die sich wie die meisten nachfolgenden Generationen um Abgrenzung bemühte) nicht mehr gewogen war, musste die Truppe immer wieder weiterziehen. Kleine Residenzstädte wie Weißenfels (vgl. den allerersten überallistesbesser.de-Artikel) und Zerbst, größere wie Braunschweig und Kiel und Bürgerstädte wie Frankfurt und Hamburg zählten dazu. Von dort schiffte sich die Truppe 1740 sogar nach St. Petersburg ein. In der damaligen russischen Hauptstadt lebte seinerzeit eine große deutschsprachige Kolonie, und die Neuberin wie auch die Zarin wollten dort jenes deutsche Nationaltheater gründen, mit dem es in Hamburg am Gänsemarkt wieder nicht geklappt hatte. Allerdings starb auch die Zarin bald darauf, und der nächste Zar hatte daran kein Interesse (vermutlich auch, weil er beim Regierungsantritt erst zwei Monate alt war …). Die Schauspieltruppe musste wieder weg schippern.
Wie viele Pioniere, die Ideen zur nachhaltigen späteren Durchsetzung verhalfen, war die Neuberin streitbar und in viele Streitigkeiten verstrickt, nicht zuletzt mit früheren Mitstreitern. Noch am ehesten bekannt ist ihr Streit mit dem Leipziger Poetikprofessor Johann Christoph Gottsched, der zumindest mittelbar wegen seines Streits mit einem jüngeren, heute noch gespielten Autor, geläufig ist, mit Lessing. Dessen erstes, weniger bekanntes Stück „Der junge Gelehrte“ hatte wiederum die Neuberin-Truppe uraufgeführt. Im sächsischen Leipzig hatte sie insgesamt am längsten spielen können, von 1727 bis 1734.
Ein dramatisches Leben ist es also , das die Neuberin geführt hat. Dass es heute so wenig bekannt ist, dass es letztmals in den 1990er Jahren (in einer sehr unbekannten MDR- Fernsehfassung) und zuvor in der Nazizeit (vom Regisseur G.W. Pabst, dessen Leben ebenfalls dramatisch verlaufen war) verfilmt wurde, hat sie jedenfalls nicht verdient.
Wer sich dann etwas länger in Reichenbach umschaut, entdeckt an hügeligen Straßenzügen gut erhaltene Gründerzeitviertel. Im Zuge der Industrialisierung im zweiten Kaiserreich war Reichenbach tatsächlich reich geworden. Anno 1902 zog etwa August Horch aus Köln-Ehrenfeld ins sächsische Vogtland und ließ in Reichenbach seine ersten Vierzylindermotor-Autos bauen. Allerdings zog er schon 1904 weiter ins nahe Zwickau, in dem er noch heute abgefeiert wird; schließlich besteht die von ihm begründete Tradition unter dem latinisierten Namen Audi weiter.
Oben über Reichenbach steht ein sehenswerter Wasserturm. Wer viele Orte anguckt, weiß zwar, dass in Orten, die als Sehenswürdigkeiten ihre Wassertürme anführen, es mit der Gesamt-Sehenswürdigkeit oft nicht weit her ist. Aber der in Reichenbach ist in seiner neu-sachlichen Gestuftheit tatsächlich sehenswert – und eine dramatische bzw. tragische Lebensgeschichte verknüpft sich auch mit ihm: Der Architekt Rudolf Ladewig schloss sich, weil seine jüdische Frau diskriminert wurde, in der Nazizeit dem Widerstand an und wurde „im März 1945 … verhaftet und mit seinen Kindern kurz vor Kriegsende im KZ Neuengamme ermordet.“ (reichenbach-vogtland.de, in einem der Textkästchen).
Etwas außerhalb bzw. doch innerhalb des seit der Eingemeindung des Nachbarorts 2016 Mylau gewachsenen Stadtgebiets bietet Reichenbach außerdem eine handfeste Riesen-Sehenswürdigkeit, eine ebenfalls architektonische: „die größte Ziegelbrücke der Welt“, die Göltzschtalbrücke. Sie ist so groß, wie das namensgebende Flüsschen klein ist, und verbindet seit Mitte des 19. Jahrhunderts die beiden ältesten deutschen Eisenbahn-Hotspots, Nürnberg und Leipzig.
Auch oder sogar gerade auf auf den ersten Blick eher unscheinbare Städte wie dieses Reichenbach lohnen sich häufig zweite Blicke.
Eine Burg gibt’s in Mylau übrigens auch.